Seite - 93 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Aber seltsam: in dem vollkommen Umnachteten, den man nicht mehr ins
Freie lassen darf (weil die geistige Elite Deutschlands, die Herren Studenten,
den Unglücklichen verhöhnen und durch Bierulk zu rabiatem Ausbruch
treiben), in dieser ausgebrannten Asche eines eingestürzten Geistes bleibt ein
Funke noch glühend bis zum letzten Tag: die Dichtung. Nur sie allein
überlebt, symbolisch genug, den geistigen Untergang. Scardanelli dichtet, wie
das Kind Hölderlin gedichtet haben mag. Stundenlang schreibt er ganze
Bogen mit Versen und einer phantastischen Prosa voll – Mörike, der sie
achtlos vertan, erzählt, man habe ihm diese Manuskripte »in Waschkörben
zugetragen« –; und wenn ein Besucher ihn um ein Gedenkblatt bittet, so setzt
er sich ohne Zögern hin und schreibt mit sicherer Hand (auch die Schrift ist
unberührt von der Zerstörung) ganz nach Wunsch Verse über die Jahreszeiten
oder Griechenland oder ein »Geistiges« hin, wie etwa dies:
Als wie der Tag die Menschen hell umscheinet
Und mit dem Lichte, das den Höhn entspringet,
Die dämmernden Erscheinungen vereinet,
Ist Wissen, welches tief der Geistigkeit gelinget.
Darunter schreibt er dann ein abstruses Datum (im Realen verläßt ihn sofort
die Vernunft) und »mit Untertänigkeit Scardanelli«.
Diese Gedichte des erloschenen Wachsinns, diese Verse Scardanellis sind
nun vollkommen von jenen der geistigen Dämmerung, der purpurnen
Finsternis, von den schwellenden Oden der »Nachtgesänge« verschieden: in
ihnen vollzieht sich eine geheimnisvolle Rückbildung zu den Anfängen.
Keines von ihnen ist frei rhythmisch wie jene Hymnen an der Schwelle der
Dunkelheit, alle kurzen Atems im Gegensatz zu jenen breiten rauschenden
Strömen. Es ist, als ob der Ermüdbare und geistig Schwankende sich
fürchtete, in freier Ode hinab in den reißenden Katarakt des Rhythmus zu
stürzen; so hält er sich am Reim wie an einer Krücke. Keines von diesen
Gedichten ist vernünftig im Sinne der Klarheit und keines gänzlich sinnlos;
sie sind nicht mehr Form, sondern nur Klangform, irgendeinem Vagen der
Bedeutung, das er nicht logisch mehr festzuhalten vermag, lyrisch
nachgesprochen. Aber immerhin, diese Wahnsinnsgedichte Scardanellis sind
doch noch Gedichte, indes jene der anderen Geisteskranken, etwa jene Lenaus
aus der Winnenthaler Anstalt, ganz leer dem bloßen Klangreim nachtorkeln
(»Die Schwaben, sie traben, traben, traben«). Noch wölben sich wolkig und
undurchsichtig Vergleiche, noch wird erschütternd oft der Seelenzustand in
einem Aufschrei wahr wie in jenem unvergleichlichen Vierzeiler:
Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen.
Der Jugend Freuden sind wie lang! wie lang! verflossen.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199