Seite - 98 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Landung in England – plötzlich torkelt wie ein Traumwandler der kaum
entlassene preußische Offizier zwischen den Truppen herum. Ein Wunder
rettet ihn vor dem Erschießen. Die Franzosen marschieren nach Berlin –
gemächlich spaziert er durch die Kompanien, bis man ihn festnimmt und
interniert. Bei Aspern kämpfen die Österreicher die entscheidende Schlacht:
quer über die Walstatt wandert der Somnambule des Geistes, nichts anderes
zur Legitimation in der Tasche als ein paar patriotische Gedichte. Ein solches
sorgloses Verhalten ist logisch unerklärbar: hier waltet übermächtiger Zwang,
waltet entsetzliche Ruhelosigkeit in einer selbstgequälten Seele. Man hat von
geheimen Missionen gesprochen, die ihm anvertraut waren, um seine Fahrten
zu erklären: das mag für die eine oder die andere gelten, nicht aber für die
ewige Flucht seiner Existenz. In Wahrheit hat Kleist bei allen seinen Reisen
kein Ziel.
Er hat kein Ziel, er pfeilt nicht einer Stadt, einem Land, einer Absicht zu –
er schnellt sich nur ab von dem überspannten Bogen, fort von sich selbst. Er
will sich entlaufen, etwas in sich gewaltsam überrennen, er wechselt (wie
Lenau – ihm innig verwandt – einmal ähnlich in seinem Gedichte vom
»Seelenkranken« sagt) die Städte wie ein Fiebernder die Kissen. Überall hofft
er Kühlung, hofft er Genesung: aber wen der Dämon treibt, dem brennt kein
Herd und wächst kein Dach. So stürzt Rimbaud die Länder entlang, so tauscht
Nietzsche Ort und Ort und Beethoven Wohnung und Wohnung, so schleudert
es Lenau von Kontinent zu Kontinent: sie alle haben die Peitsche, die
furchtbare, der Lebensunruhe in sich, den tragischen Unbestand des Seins.
Alle sind sie Getriebene einer unbekannten Macht, verurteilt, ihr niemals zu
entrinnen: denn der sie treibt, kreist fiebrig in ihrem Blut, haust herrisch in der
eigenen Stirn. Sie müssen sich vernichten, um den Feind in sich, ihren Herrn
und Dämon, zu vernichten.
Kleist weiß, wohin es ihn treibt. Er weiß es von Anfang an – in den
Abgrund. Nur weiß er nicht immer, ob er vor dem Abgrund flieht oder ihm
entgegenrennt. Manchmal scheinen (Homburg verrät’s vor dem offenen Grab)
seine Hände ganz verkrampft an das Leben, ganz eingewühlt in die letzte
Krume Erde, die ihn, den Stürzenden, halten soll. Dann sucht er Halt gegen
das ungeheure Ziehen zur Tiefe, er sucht sich anzuketten an die Schwester, an
Frauen, an Freunde, daß sie ihn halten. Und manchmal wieder strömt er
beinahe über von lechzender Sehnsucht nach dem Ende, nach jenem letzten
Hinab in die letzte Tiefe. Immer weiß er um den Abgrund, aber er weiß nicht,
ob er vor ihm liegt oder hinter ihm, ob er das Leben ist oder der Tod.
Kleistens Abgrund ist innen, darum kann er ihm nicht entlaufen. Er trägt ihn
mit sich wie seinen Schatten.
So rennt er die Länder entlang wie eine jener lebenden Fackeln, wie die
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199