Seite - 104 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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überkantisches Pflichtmenschentum mit gewaltsamen Imperativen die
Leidenschaft zurückstieß und versperrte. Er war leidenschaftlich bis zur
Lasterhaftigkeit bei einem fast krankhaften Sauberkeitsempfinden, er wollte
immer wahr sein und mußte sich immer verschweigen. Daher dieser Zustand
ständiger Spannung und Stauung, diese unerträgliche Qual seelischen
Auftriebs bei verpreßten Lippen. Er hatte zuviel Blut bei zuviel Hirn, zuviel
Temperament bei zuviel Zucht, zuviel Gier bei zuviel Ethos und war ebenso
übertreiberisch im Gefühl wie überwahrhaftig im Geist. So spannte sich der
Konflikt immer gewaltsamer durch sein ganzes Leben; allmählich mußte der
Druck zur Explosion führen, wenn sich kein Ventil auftat. Und Kleist (das
war sein Verhängnis im letzten) hatte kein Ventil, keinen Ausstrom: im Wort
gab er sich nicht her, nichts von seinen Spannungen floß ab in Gesprächen, in
Spielen, in kleinen erotischen Abenteuern oder verschwemmte sich in
Alkohol und Opium. Nur in den Träumen (in seinen Werken) tobten sich
schwelgerisch seine wüsten Phantasien, seine überhitzten (und oft dunklen)
Triebe aus; wenn er wach war, duckte er sie mit eherner Hand, ohne sie aber
ganz töten zu können. Ein Schuß Laxheit, Indifferenz, Knabenhaftigkeit,
Sorglosigkeit: und seine Leidenschaften hätten das böse Gehaben
eingesperrter Raubtiere verloren; aber er, der Ausschweifendste,
Schwelgerischeste im Gefühl, war ein Fanatiker der Zucht, er übte
preußischen Drill gegen sich selbst und stand mit sich ständig im Widerstreit.
Sein Inneres war wie ein unterirdischer Käfig niedergeduckter, aber nicht
gezähmter Gelüste, die er mit dem rotglühenden Eisen gehärteten Willens
immer zurückstieß. Aber immer sprangen die hungrigen Bestien wieder in
ihm auf. Und schließlich haben sie ihn zerrissen.
Dieses Mißverständnis zwischen wahrem und selbstgewolltem Wesen,
diese ständige Überspannung von Trieb und Widertrieb schuf seine Qual in
Schicksal um. Seine Hälften paßten nicht zusammen und rieben sich ständig
blutig: er war ein russischer Mensch, ein Maßloser, lechzend nach
Überschwang und dabei eingeschnürt in den Waffenrock eines märkischen
Adeligen; er hatte große Begierden und dabei das strikte imperativische
Bewußtsein, er dürfe ihnen nicht nachgeben. Sein Intellekt verlangte nach
Idealität, aber er forderte sie nicht wie Hölderlin (ein anderer Tragiker des
Geistes) von der Welt: Kleist postulierte das Ethos nicht für die andern,
sondern einzig für sich. Und wie alles, so übertrieb er – der furchtbarste
Übertreiber jedes Gefühls, jedes Gedankens – auch diese Forderungen der
Sittlichkeit: selbst die starre Norm hitzte er sich rotglühend bis zur
Leidenschaft. Daß ihm keiner unter den Freunden, den Frauen, den Menschen
genügte, hätte ihn nicht zerstört. Daß er sich selbst aber nicht gewachsen war,
daß er sich, so heiß er war, nicht formen konnte, das vernichtete immer
wieder seinen Stolz. Ständig hält er über sich Gericht, ein harter Richter – »es
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199