Seite - 105 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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ging streng um ihn her«, wie Rahel sagte, und am strengsten in ihm selbst.
Wenn er in sich hineinsah – und Kleist hatte den Mut, wahr zu sehn und bis in
die letzte Tiefe zu sehn –, dann graute ihm wie einem, der Medusa erblickt. Er
war ganz anders, als er sich wollte: und niemand wollte mehr von sich; kaum
hat je ein Mensch höhere moralische Prätensionen an sich gestellt (bei so
geringer Fähigkeit, ein kategorisches Ideal zu erfüllen) als Heinrich von
Kleist.
Denn wirklich: ein ganzes Schlangennest von Dämonien brütete unter dem
kühlen, verdeckten, undurchdringlichen Felsen seiner äußern Starre, und eine
hitzte sich an der andern. Die Fremden haben niemals diesen höllischen
Knäuel geahnt unter Kleistens kühler beherrschter Verschlossenheit, aber er
selbst kannte es furchtbar gut, dies verknäuelte züngelnde Gezücht von
Leidenschaft im untersten Schatten seiner Seele. Der Knabe schon hatte es
entdeckt und blieb ein ganzes Leben davon verstört: die sinnliche Tragödie
Kleistens beginnt früh, Überreiztheit war ihr Anfang, Überreiztheit ihr Ende.
Es besteht kein Anlaß, prüde dieser intimsten Krise seiner Jugend
auszubiegen, nachdem er sie selbst seiner Braut und seinem Freunde vertraut;
und dann: sie ist der dichterische Einstieg hinab ins Labyrinth seiner
Leidenschaft. Als junger Kadett hatte er, vor der Kenntnis der Frau, das getan,
was so ziemlich alle leidenschaftlichen Knaben seines Alters im
Frühlingserwachen der Sexualität tun. Da er ein Kleist war, frönte er maßlos
diesem Knabenlaster; da er ein Kleist war, litt er moralisch maßlos an dieser
Schwäche seines Willens. Er fühlt sich von solcher Wollüstigkeit seelisch
befleckt, körperlich schon zerrüttet, und seine gräßlich übertreibende
Phantasie, die immer in furchtbaren Bildern schwelgt, täuscht ihm
entsetzliche Folgen seines Knabenlasters vor. Was andere leicht überwachsen
wie eine nichtige Schramme der Jugend, das frißt sich bei ihm wie ein
Krebsgeschwür bis tief hinein in die Seele: schon verzerrt der
Einundzwanzigjährige den (wohl bloß imaginären) Defekt seines Sexus zu
Gigantenmaßen. Er schildert in einem Brief jenen (gewiß erfundenen)
Jüngling im Spital, der an den »Verirrungen seiner Jugend« zugrunde geht,
»mit nackten blassen ausgedörrten Gliedern, mit eingesenkter Brust, kraftlos
niederhängendem Haupt« einzig sich selbst zu Warnung und Schrecknis; und
man fühlt, wie dieser preußische Junker zerfressen sein muß von Selbstekel
und Scham über die Erniedrigung, daß er sich nicht selbst gegen die eigene
Lust zu verteidigen wußte. Und dazu kommt noch die wahrhaft tragische
Steigerung, daß er, der sich sexuell unfähig fühlt, verlobt war mit einem
keuschen, unwissenden Mädchen, dem er Sittlichkeit in spaltenlangen
Exerzitien dozierte (indessen er sich selbst unsauber und beschmutzt empfand
bis in den letzten Winkel seiner Seele), daß er ihr die ehelichen Pflichten
erklärt und jene der künftigen Mutterschaft (indes er bezweifelt, je die
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199