Seite - 106 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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eheliche Mannespflicht noch erfüllen zu können). Schon damals beginnt jene
entsetzliche Überfülltheit in Kleist, die er scheu und schamhaft niederwürgt,
bis ihm doch einmal die Lippe aufspringt und er einem Freund den
Wahngedanken, die vermeintliche Schmach anvertraut, die ihn entnervt. Der
Freund – Brockes hieß er – war kein Kleist, kein Übertreiber. Er übersah die
Situation sofort in ihren klaren natürlichen Maßen, wies Kleist an einen Arzt
in Würzburg, und in wenigen Wochen befreite ihn der Chirurg – scheinbar
durch Operation, wahrscheinlich aber durch Suggestion – von der
vermeintlichen Minderwertigkeit des Geschlechts.
Sein Sexus war nun organisch geheilt. Aber Kleistens Erotik ist niemals
ganz normal, ganz begrenzt geworden. Es tut sonst in einer menschlichen
Biographie nicht not, an das »Geheimnis des Gürtels« zu rühren; aber gerade
dieser Gürtel verschließt Kleistens geheimste Kräfte, und trotz seiner
eminenten Geistigkeit ist sein Wesen urtümlich von seinem merkwürdig
oszillierenden und doch durchaus typischen erotischen Habitus bestimmt.
Seine ganze schwelgerische, übertreiberische, zügellos ausschweifende
Orgiastik, die gerne in Bildern wühlt und in Überschwängen sich ergießt, hat
unzweifelhaft ihre Wesensart von jenen verborgenen Exzessen; und vielleicht
hat niemals in der ganzen Literatur eine dichterische Phantasie so klinisch
deutlich die Form einer vorlusthaften, sich schon an Träumen erhitzenden und
an Träumen sich aufreibenden und erschöpfenden Knaben-Männlichkeit
gehabt. Dichterisch sonst der sachlichste, taghellste Schilderer, wird Kleist
in erotischen Episoden sofort schwelgerisch exzessiv, orientalisch-üppig,
seine Visionen zu erregten Lustträumen, die sich in traumhaften
Übersteigerungen überbieten (die Schilderungen der Penthesilea, das ewig
wiederholte Bild der Perserbraut, die nackt von Sandel triefend aus dem Bade
steigt) – an diesem Nerv ist sein ganzer so furchtbar verborgener Organismus
gleichsam offen und zuckt bei der leisesten Berührung. Hier spürt man, daß
der erotische Überreizungszustand seiner Jugend ein unausrottbarer war, daß
diese chronische Entzündlichkeit seines Eros fortbestand, sosehr er sie
niederzwang und in späteren Jahren auch verschwieg. Aber etwas kam da
niemals mehr ins Gleichgewicht, nie hatte sich Kleistens Liebesleben jemals
in irgendeiner Beziehung ganz einlinig, geradlinig auf der normalspurigen
Bahn gesunder Männlichkeit bewegt; alle Beziehungen Kleistens behalten
dieses Zuwenig und Zuviel in den wandelndsten Formen, sie schillern
durcheinander in den seltsamsten und gefährlichsten Betonungen und
Nuancierungen. Eben weil ihm die gerade Stoßkraft des Begehrens (vielleicht
auch des Könnens) im Sexuellen fehlte, war er aller Vielfältigkeiten und
Zwischengefühle fähig: darum auch seine magische Kenntnis aller
Kreuzwege und Seitenschliche des Eros, all der Vermengungen und
Verkleidungen des Gelüsts, dies merkwürdige Wissen um das
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199