Seite - 107 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Transvestitentum des Triebs. Selbst die ursprüngliche Zielrichtung gegen die
Frau ist nicht ganz umwandelbar; während bei Goethe und den meisten
Dichtern der Pol ganz rein der Frau zugewandt ist, sosehr er auch in
vielfacher Schwingung pendelt, tastet Kleistens unbeherrschter Trieb allen
Zielrichtungen zu. Man lese die Briefe an Rühle, Lohse und Pfuel: »Ich habe
Deinen schönen Leib oft, wenn Du in Thun … in den See stiegest, mit
wahrhaft mädchenhaften Gefühlen betrachtet«, oder noch deutlicher, »Du
stelltest das Zeitalter der Griechen in meinem Herzen wieder her, ich hätte bei
Dir schlafen können« – und würde einen Homosexuellen in ihm vermuten.
Aber Kleist ist nicht invertiert, seine Liebesempfindung hat nur exaltierte
Gefühlsformen. Nicht minder glühend und voll jener erotischen Überhitzung
der seelischen Empfindung schreibt er an die »Einzige«, an Ulrike, die aber
seine Stiefschwester war (und seltsam das Weibische seines Empfindens
parodierend, in Manneskleidern mit ihm reiste). Immer mengt er jeder
Gefühlsregung das brennende Salz seiner übertriebenen Sinnlichkeit bei,
immer verwirrt er so die Empfindungen. Bei Luise Wieland, der
Dreizehnjährigen, kostet er den Reiz der geistigen Verführung ohne tätliche
Beziehung, an Marie von Kleist drängt ihn mütterliches Gefühl, an die letzte
Frau, an Henriette Vogel, bindet ihn gleichfalls kein Verhältnis (wie gräßlich
doch diese Worte sind), sondern nur die wütige Todeswollüstigkeit. Nie ist
eine Beziehung Kleistens zu einer Frau, zu einem Manne klar und einfach, nie
eine Liebe, sondern immer ein Vermengtes, Übertriebenes, immer jenes
Zuviel und Zuwenig, das seines Eros eigentliches Stigma bildet, immer geht
er – wie Goethe mit magisch durchleuchtendem Worte von ihm sagte – »auf
eine Verwirrung des Gefühls« aus. Nie schöpft, nie erschöpft er, so tief er sich
auch aufwühlt, in einem Erlebnis seine Liebesgewalt, nie wird er (wie
Goethe) frei durch Tat oder Flucht, immer bleibt er verhakt, ohne ganz zu
erfassen, der »sinnlich übersinnliche Freier«, gehitzt von den feinen Giften
seines Blutes. Auch in der Erotik ist Kleist niemals der Jäger, sondern der
Gejagte, untertan dem Dämon der Leidenschaft.
Aber eben, weil Kleist sexuell so vieldeutig, so problemhaft, und gerade
darum vielleicht, weil er da physisch nicht ganz vollwertig und einlinig war,
übertrifft er alle andern Dichter um ihn an erotischem Wissen. Die überhitzte
Atmosphäre seines Blutes, die ständig bis zum Zerreißen vehemente Straffung
seiner Nerven treibt aus den Untergründen die geheimsten Rückstände des
Gefühls heraus: die seltsamen Gelüste, die bei andern im Unterbewußten
verdämmern und versickern, brechen bei ihm fieberfarben vor und
durchschweben feurig den Eros seiner Gestalten. Durch die Übertreibung des
Urelements – und Kleist ist Künstler einerseits durch Präzision der
Beobachtung wie andererseits durch Übersteigerung des Maßes – reißt er
jedes Gefühl bis ins Pathologische hinaus. All das, was man grobschlächtig
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199