Seite - 109 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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exzedierenden Gefühle: der Ehrgeiz, verschwistert einem tollen,
halsbrecherischen Stolz, der jeden Einwand mit der Fußsohle zertritt. Dann
ein dunkler saugender Vampir in Blut und Hirn: eine finstere Schwermut, aber
nicht wie jene Leopardis und Lenaus ein passiver Seelenzustand, eine
musikalische Dämmerung des Herzens, sondern »ein Gram, über den ich
nicht Meister zu werden vermag«, wie er schreibt, eine aggressive glühende
Todesfiebrigkeit, eine brennende Qual, die ihn wie Philoktet mit vergifteter
Wunde in die Einsamkeit zurückjagt. Und daraus wieder eine neue Not: die
Qual der Ungeliebtheit, die er im »Amphitryon« dem Gott der Schöpfung der
Natur anvertrauen läßt, auch sie gesteigert zu einer Raserei der Einsamkeit.
Was immer ihn bewegt, wird zu Krankheit und Exzeß: selbst die geistigen, die
intellektuellen Neigungen zu Sittlichkeit, Wahrheit und Rechtlichkeit verzerrt
sein Übermaß zu Leidenschaften, aus Rechtliebe wird Rechthaberei
(Kohlhaas), aus Wahrheitsdrang ein wühlerischer Fanatismus, aus
Sittlichkeitsbedürfnis eine eiskalte überspitzte Dogmatik. Immer schießt er
über sich hinaus, immer bleibt der Widerhaken des rückstürzenden Pfeils im
Fleische, das allmählich durchätzt wird von allen Laugen und Bitternissen der
Enttäuschung. Denn all diese passionierten Triebe, diese aufreizenden
virulenten Gifte können nicht aus ihm ganz heraus und geraten in gefährliche
Gärung: es fehlt (wie in seinem Eros) die Entladung in die Tat. Sein Haß
gegen Napoleon schwelgt im Gedanken, ihn zu ermorden, die Franzosen
niederzuknüppeln – aber er faßt nicht den Dolch und nicht einmal in Reih und
Glied das Gewehr. Sein Ehrgeiz will im »Guiskard« Sophokles und
Shakespeare in einem überbieten – aber das Stück bleibt Ohnmacht und
Fragment. Seine Schwermut drängt sich an die andern und sucht durch zehn
Jahre vergebens Begleiter in den Tod – aber er wartet zehn Jahre, bis er
endlich in einer krebskranken enttäuschten Frau die Gefährtin findet. Sein
Tatdrang, seine Kraft füttern nur seine Träume und machen sie wild und
blutrünstig. So wächst alle Leidenschaft in ihm, von der Phantasie unablässig
gehitzt, tropisch auf zu einer Überreiztheit und Spannung, die ihm manchmal
die Nerven durchriß, aber doch, nach Hamlets Wort, »dies allzu harte Fleisch«
nicht zu schmelzen vermag. Vergebens stöhnt er »Ruhe, Ruhe vor den
Leidenschaften«, aber sie lassen ihn nicht, und bis in das letzte Rinnsal seiner
Werke zischt der heiße Dampf, die Hypertrophie des Gefühls. Sein Dämon
läßt nicht die Peitsche von ihm: er muß weiter durch das Gestrüpp seines
Schicksals in ewiger Jagd bis zum Abgrund.
Ein von allen Leidenschaften Gejagter – das ist Kleist wie keiner. Aber
nichts wäre irrtümlicher, als in ihm darum einen zügellosen Menschen zu
sehn, denn das ist ja seine äußerste Qual, seine ureigene Tragik, daß er sich,
mit allen Geißeln und Nattern seiner Leidenschaften fortgepeitscht, ständig
zügelt, daß dieser starre Zaum seines Willens ihn zurückreißt, während er
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199