Seite - 110 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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vorwärts will. Sonst steht bei jener ihm so tief verwandten Art der sich selbst
zerstörende Dichter, bei Günther, bei Verlaine, Marlowe, einer
überschwingenden Leidenschaft ein ganz schwacher weibischer Wille
entgegen, und sie werden überflutet und zermalmt von ihren Trieben. Sie
vertrinken, verspielen, vergeuden, verlieren sich, sie werden zerrieben von
dem innern Wirbel ihres Wesens: sie stürzen nicht jählings ab, sondern
rutschen allmählich hinunter, sie fallen von Stufe zu Stufe mit immer
schwächerem Widerstand des Willens. Bei Kleist aber steht – und hier, nur
hier ist die Wurzel der Kleistischen Tragödie – einer dämonisch starken
Leidenschaftlichkeit der Natur ein gleich dämonischer Wille des Geistes
entgegen (so wie im Werk ein wilder, berauschter Visionär sich einem kalten,
nüchternen, unerhört klarsichtigen Könner und Errechner paart). Auch sein
Gegenwille gegen das Triebhafte ist überstark wie der Trieb selbst, und diese
widersätzliche Doppelstärke steigert seinen innern Kampf ins Heroische.
Manchmal erscheint er selbst wie sein Guiskard, der in seinem innersten Zelte
(in seiner Seele) durchschwärt von Beulen, durchfiebert von allen bösen
Säften, leidet, aber durch die Kraft seines Willens sich aufrafft und, mit
ungeheurer Geste seinem Geheimnis die Kehle verschließend, vor die
Menschen tritt. Kleist gibt sich nicht einen Fußbreit nach, er läßt sich nicht
willenlos in den eigenen Abgrund hinabziehen: ehern stemmt sich der Wille
gegen dies ungeheure Ziehen seiner Leidenschaft:
Steh, stehe fest wie das Gewölbe steht
Weil seiner Blöcke jeder stürzen will.
Beut deine Scheitel, einem Schlußstein gleich,
Der Götter Blitzen dar und rufe: trefft!
Und laß dich bis zum Fuß herab zerspalten,
Solang ein Atem Mörtel und Gestein
In dieser jungen Brust zusammenhält.
– diese heilige Hybris setzt er dem Schicksal entgegen, und gegen die
Selbstvernichtung dämmt er herrisch und stark den leidenschaftlichen Trieb
zur Selbsterhaltung, zur Selbsterhöhung. So wird Kleistens Leben zu einer
Gigantomachie, zum Riesenkampf einer übersteigerten Natur: seine Tragik ist
nicht, daß er wie die meisten Menschen von dem einen zuviel und von dem
andern zuwenig hatte, sondern er hatte von beidem zuviel; zuviel Geist bei
zuviel Blut, zuviel Sittlichkeit bei zuviel Leidenschaft, zuviel Zucht bei zuviel
Zügellosigkeit. Er war einer der überfülltesten Menschen, und die »unheilbare
Krankheit«, von der dieser »schön intentionierte Körper« ergriffen war (wie
Goethe sagt), eigentlich Überkraft. Darum mußte er sich selbst zersprengen
wie ein überhitzter Kessel: sein Dämon war nicht das Urmaß, sondern sein
Übermaß.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199