Seite - 120 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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speit er wie einen Blutsturz seinen ganzen promethidischen Ehrgeiz aus sich
heraus, in der »Penthesilea« überschwelgt sich seine sexuelle Hitze, in der
»Hermannsschlacht« tobt sich sein bis zur Bestialität hochgetriebener Haß aus
– alle drei haben sie mehr das Fieber seines Bluts in den Adern als die
Außentemperatur des realen Lebens, und selbst in den linderen, vom eigenen
Ich mehr weggebogenen Werken, wie im »Käthchen von Heilbronn« und den
Novellen, vibriert noch die elektrische Spannung seiner Nerven. Allerorts ist,
wo man Kleisten folgt, magische und dämonische Sphäre, Dämmerung und
Verschattung des Gefühls, und dann dies grelle Aufblitzen von großen
Gewittern, jene dumpfe, gepreßte Luft, die auf seinem eigenen Herzen ein
ganzes Leben lang lastend lag. Dieses Zwanghafte, diese schwefelig-feurige
Atmosphäre von Entladung macht die Dramen Kleistens so großartig,
sonderbar; auch jene Goethes sind ja Lebensverwandlungen, aber doch nur
episodische, sie sind nur Entladungen, Entlastungen einer bedrückten Seele,
Selbstrechtfertigungen, Flucht und Ausflucht.
Nie aber haben sie jenes Gefährlich-Explosive, jenes Vulkanische wie die
Kleistens, wo Lavatrümmer aus der untersten, unzugänglichsten, aus der
tödlichsten Tiefe des Herzens mit solchem plötzlichen Druck
herausgeschleudert werden. Diese Gewaltsamkeit des Ausbruches, dies
Schaffen auf der Klippe zwischen Tod und Leben ist es ja auch, was Kleist
etwa von Hebbels kostümierten Gedankenspielen unterscheidet, wo die
Problematik aus dem Hirn kommt, nicht aus der untersten vulkanischen Tiefe
der Existenz, oder von jenen Schillers, die nur großartige Konzeptionen und
Konstruktionen sind, aber doch irgendwie außerhalb und unbedrohlich hinter
der eigenen Not und Urgefahr der Existenz stehen. Nie ist ein deutscher
Dichter so tief mit seiner ganzen Seele ins Drama hineingefahren, nie hat sich
einer so sehr die Brust mörderisch mit seiner Dichtung aufgesprengt: nur
Musik ist sonst so vulkanisch, so zwanghaft, so selbstschwelgerisch
entstanden, und gerade dieser gefährliche Charakter hat den gefährdetsten
unter den Musikern, Hugo Wolf, magisch angezogen, noch einmal in der
»Penthesilea« diesen innersten Ausbruch der vorgepeitschten Leidenschaft
auftönen zu lassen.
Diese Nötigung, dies Zwanghafte bei Kleist, drückt es aber nicht sublim die
Forderung aus, die zweitausend Jahre früher Aristoteles an die Tragödie stellt,
daß sie »von einem gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung
sich reinige?« In den Attributen »gefährlich« und »vehement« liegt die
eigentliche Betonung, und wie für Kleist scheint darum die Vorschrift
geschrieben, denn wessen Affekte waren gefährlicher als die seinen, wessen
Entladungen vehementer? Er war nicht (wie Schiller) Bewältiger seiner
Probleme, sondern ein Besessener: gerade aber diese Unfreiheit macht seinen
Ausdruck so gewaltsam, so konvulsivisch. Sein Schaffen kennt nicht ein
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199