Seite - 122 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Shakespeare) in der erhabensten Sphäre des Geistes zu sein. Stoff ist ihm nur
Vorwand und Materie, das Durchgluten mit Leidenschaften dagegen die
wahre Leidenschaft. So schafft er die Spannung oft mit den niedersten,
unbeholfensten, weggeborgtesten Mitteln (Käthchen von Heilbronn,
Schroffensteiner); aber ist er dann gehitzt zur Leidenschaft, ist er in sein
Urelement des Gegensätzlichen einmal mit der treibenden Dampfkraft seiner
Seele eingetreten, so schafft er Intensitäten ohnegleichen. Immer muß er
deshalb ganz tief hinab, darum bedarf er, wie Dostojewski, der langwierigen
Vorbereitungen, der raffiniertesten Verwirrungen, der labyrinthischen
Unterstiege. Im Anfang seiner Dramen sind die Tatsachen, die Situation
(Zerbrochener Krug, Guiskard, Penthesilea) auf das dichteste verknäult,
gleichsam erst das Gewölk geschaffen, aus dem das dramatische Gewitter
dann erst losfahren kann, und er liebt diese gestaute, unübersichtliche,
überfüllte Atmosphäre, weil sie in Verwirrung, Verstrickung und Weglosigkeit
so recht die seiner Seele ist – Verwirrung der Situation entspricht da jener
»Verwirrung des Gefühls«, die Goethe, den Klardämonischen, so sehr bei ihm
beängstigte. Und gewiß steckt am Grunde dieses gewaltsamen Verbergens,
dieses Rätselratens und Versteckens ein Schuß perverser Qualfreude, ein
Vorlustgenießen im Spannen und Retardieren, ein Lüsteln und Zündeln mit
der eigenen, der fremden Ungeduld. So rühren, ehe sie das Gefühl auflodern
lassen, Kleistens Dramen schon aufreizend an die Nerven: wie Tristanmusik
schaffen sie gern mit einer schwelgerischen Monotonie, mit spannenden
Andeutungen und aufregenden Undeutlichkeiten eine Vibration des Gefühls.
Einzig im »Guiskard« reißt er mit einem Ruck gleich einem Vorhang die
ganze Situation tagklar auf – sonst beginnt bei ihm jedes Drama (Homburg,
Penthesilea, Hermannsschlacht) mit einer Verwirrtheit der Situation und der
Charaktere, aus der dann lawinenhaft anschwellend die Urleidenschaft der
Gestalten losbricht und schmetternd gegeneinanderstößt. Manchmal
überrennen und zerbrechen sie dann in ihrem Überschwang die
vorgezeichnete fragile Konzeption: außer im »Homburg« hat man fast immer
das Gefühl bei Kleist, als hätten seine Gestalten sich seiner Hand im Fieber
entrissen und wären weiter hinausgestürmt ins Überdimensionale, hinaus in
Stärken des Gefühls, wie sie der wache Traum weder gewagt noch gewollt.
Nicht wie Shakespeare bewältigt er seine Gestalten und Probleme: sie reißen
ihn über sich selbst hinaus. Sie folgen dem dämonischen Anruf, jede ein
Zauberlehrling, und nicht dem klaren planenden Willen: im höheren Sinn ist
Kleist unverantwortlich für sie wie für Worte, die man aus Träumen spricht
und die ungehemmt die wahrsten Wünsche verraten.
Dieses Zwanghafte, Unfreie, dies Müssen über dem eigenen Willen waltet
auch in seiner dramatischen Sprache: sie ist wie der Atem eines Aufgeregten,
manchmal sich schäumend überstrudelnd und übersprudelnd, manchmal
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199