Seite - 123 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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knapp aussetzend, ein Keuchen nur oder ein Schrei oder ein Schweigen.
Unablässig fährt sie ins Gegenteilige: manchmal herrlich bildhaft in ihrem
Lakonismus, erzgeprägt in ihrer starren Verhaltenheit, schmilzt sie in der
Überhitze des Gefühls hemmungslos hyperbolisch über. Oft gelingen ihm
einzige Ballungen, bluthaft strotzend wie kraftgeschwellte Adern, dann platzt
wieder die aufgebrochene Empfindung bombastisch entzwei. Solange er sie
zäumt, die Sprache, ist sie männisch und stark: aber wenn die Empfindung
leidenschaftlich wird, entreißt sich ihm das Wort und schwelgt alle seine
Träume bildend aus. Nie hat Kleist seine Rede ganz in der Macht: er krümmt,
er verbiegt, er dehnt und windet gewaltsam die Sätze, um sie hart zu machen,
er spannt (der ewige Übertreiber) sie oft so auseinander, daß man die Enden
kaum wieder zusammenfindet; aber immer nur über das einzelne hat er
Gewalt und Geduld: nie strömen die ganzen Verse ineinander zu melodischem
Fluß, es spritzt, es schäumt, es gischtet und zischt von Leidenschaften. So wie
seine Menschen, wenn er sie in sein Fieber gejagt, ihre Überschwänge, so
kann er schließlich die Worte nicht mehr im Zügel halten: wenn Kleist sich
frei gibt (und in der Produktion entkettet er sein tiefstes Selbst), so wird er
überrast und überrannt von seinem Übermaß. Darum gelingt ihm auch kein
einziges Gedicht (außer jener magischen Todeslitanei), weil Stauung und
Niedersturz nie ein reines ebenmäßiges Strombild schaffen, sondern quirlend
gegeneinanderwühlen: sein Vers geht ebensowenig ruhig und melodiös wie
sein Atem. Erst der Tod erlöst ihn zu Musik, zum letzten Entströmen.
Treiber und Getriebener, Anpeitschender und selbst Gejagter, so steht
Kleist mitten zwischen seinen Gestalten, und was diese seine Dramen so
eminent tragisch macht, ist weniger ihr episodischer Einzelfall, sondern der
ungeheuer verwölkte Horizont, der sie großartig ins Heroische aufweitet und
erhöht. Der Riß, der jedem seiner Helden durch die Brust geht, ist für ihn Teil
des ungeheuren Sprunges, der das ganze Weltall unheilbar spaltet und es zu
einer einzigen Wunde, zu einem ewigen Leiden verwandelt. Wieder hat
Nietzsche die Wahrheit seherisch gefühlt, wenn er von Kleist sagte, daß Kleist
sich »mit der unheilbaren Seite« der Natur befasse, denn oftmals sprach er
von der »Gebrechlichkeit der Welt«, ihm war sie unheilbar, nie ganz zu
vereinen, schmerzliche Ungelöstheit und Unlösbarkeit. Damit gewinnt er aber
die wahrhafte Einstellung des Tragikers: nur wer die Welt unablässig als
Vorwurf empfindet, im doppelten Sinne des Worts, als Stoff und als Anklage
zugleich, der kann als Kläger und Richter Mund um Mund, Rede um Rede
dramatisch auftun und jeden sein Recht haben lassen wider das ungeheure
Unrecht der Natur, die den Menschen so fragmentarisch, so zerteilt, so ewig
unbefriedigt gemacht. Freilich ist solche Vision der Welt nicht hellen Auges
zu sehen. Goethe hatte ironisch einem andern Verdunkelten, Arthur
Schopenhauer, in sein Stammbuch geschrieben:
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199