Seite - 139 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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wäre für sein Leben, wird ihm herrlich als Sterbegenossin. Er selbst hatte sich
ihr angeboten: sie mußte ihn nur nehmen, und er war bereit.
Das Leben hatte ihn bereit gemacht, allzu bereit, es hatte ihn getreten,
geknechtet, enttäuscht und erniedrigt – aber mit herrlicher Kraft hebt er sich
noch einmal auf und formt aus seinem Tod seine letzte heroische Tragödie.
Der Künstler in ihm, der ewige Übertreiber facht das lang schwelende Feuer
des heimlich glimmenden Entschlusses mit mächtigem Atem an; und wie eine
Lohe von Jubel und Seligkeit schlägt es aus Kleistens Brust, seit er seines
Freitodes gewiß ist, seit er, wie er sagt, »zum Tod ganz reif geworden«, seit er
weiß, daß ihn das Leben nicht bemeistern wird, sondern er es bemeistert. Und
der nie ein reines Ja zum Leben fand (wie Goethe), nun sagt und jubelt er sein
freies seliges Ja zum Tode: herrlich ist dieser Klang, zum erstenmal tönt wie
eine Glocke sein ganzes Wesen klar und ohne Dissonanz. Alle Sprödigkeit ist
gebrochen, alle Dumpfheit zerstoben, prachtvoll dröhnt jetzt jedes Wort, das
er spricht, das er schreibt, unter dem Hammer des Schicksals. Schon tut ihm
der Tag nicht mehr weh, schon atmet er auf, schon atmet die aufgespannte
Seele Unendlichkeit, das schmerzhaft Gemeine wird fern, das innere
Leuchten Welt, und selig erlebt er seines eigenen Ich, seines Homburgs Verse
vor dem Untergang:
Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!
Du strahlst mir durch die Binde meiner Augen
Mir Glanz der tausendfachen Sonne zu!
Es wachsen Flügel mir an beiden Schultern,
Durch stille Ätherräume schwingt mein Geist;
Und wie ein Schiff, vom Hauch des Winds entführt,
Die muntre Hafenstadt versinken sieht,
So geht mir dämmernd alles Leben unter:
jetzt unterscheid ich Farben noch und Formen,
Und jetzt liegt Nebel alles unter mir.
Die Ekstase, die ihn dreiunddreißig Jahre lang durch das Dickicht des
Lebens trieb, nun hat sie ihn milde aufgehoben in eine Seligkeit des
Abschieds. In der letzten Stunde faßt sich der Zerrissene zusammen, das
Zerspaltene seines Wesens schmilzt im äußersten Gefühl. Im Augenblick, da
er frei und kühl in das Dunkel tritt, verläßt ihn sein Schatten: der Dämon
seines Lebens schwebt aus dem zerrütteten Leib wie Rauch über dem Feuer
und löst sich auf in die Sphären. In der letzten Stunde schmilzt Kleistens
Schwere und Schmerz, und sein Dämon wird Musik.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199