Seite - 142 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Novellen ist die Erzählung eines unerhörten Schicksalfalles sachlich gehärtet
in ehernster Plastik und Deutlichkeit. Und es gibt keinen zweiten
Abschiedsbrief, der dermaßen durchwoben ist von der Dämonie des
Überschwanges wie jener an die Geliebte, an Marie von Kleist in der letzten
Stunde sieht man noch herrlich die Zweiheit seines Lebens, Zucht und
Ekstase, aber beide hinausgetrieben ins Heldenhafte, ins herrlich Große.
Seine Unterschrift ist der letzte Strich unter der ungeheuren Schuld, die das
Leben an ihn hat: stark setzt er sie hin, nun ist die komplizierte Rechnung
endlich abgeschlossen, jetzt geht er daran, den Schuldbrief zu zerreißen.
Heiter wie ein Brautpaar fahren die beiden zum Wannsee hinaus. Der Wirt
hört sie lachen, über die Wiesen tollen, sie trinken heiter im Freien den
Kaffee. Dann fällt – genau zur vereinbarten Stunde – der eine Schuß und
sofort darauf der zweite, mitten in das Herz der Gefährtin, mitten in den
eigenen Mund. Seine Hand hat nicht gezittert. In der Tat: er verstand es
besser, zu sterben als zu leben.
Kleist ist der große tragische Dichter der Deutschen nicht aus einem
Willen, sondern aus einem Gewolltwerden, einzig darum, weil er zwanghaft
eine tragische Natur und seine Existenz eine Tragödie war: gerade dies
Dunkle, Verschränkte, Versperrte und gleichzeitig Aufgetriebene, das
Prometheische seines Wesens schafft das Unnachahmliche seiner Dramen,
das die Nachfahren weder mit Hebbels kalter Geistigkeit noch mit Grabbes
fahriger Hitze jemals erreichen können. Sein Schicksal und seine Atmosphäre
sind integrierender Bestandteil seines Werkes: deshalb scheint mir die oft
gestellte Frage, wie weit er, gesundet und von seinem Fatum erlöst, die
deutsche Tragödie noch erhoben hätte, töricht und fremd. Seines Wesens
Wesen war Spannung und Gespanntheit, seines Schicksals unabweisbarer
Sinn Selbstzerstörung durch Übermaß: darum ist sein freiwilliger früher Tod
ebensosehr sein Meisterwerk wie der »Prinz Friedrich von Homburg«: denn
immer muß neben den Gewaltigen, die Herren des Lebens sind wie Goethe,
von Zeit zu Zeit einer erstehen, der das Sterben meistert und aus dem Tode
ein Gedicht über die Zeiten schafft. »Oft ist ein guter Tod der beste
Lebenslauf« – der unglückliche Günther, der diesen Vers sich schrieb, wußte
ihn nicht zu formen, den guten Tod, er glitt nieder in sein Unglück und losch
aus wie ein kleines Licht. Kleist, der wahrhafte Tragiker dagegen, erhöht
plastisch sein Leiden in das unsterbliche Denkmal eines Untergangs; alles
Leiden aber wird sinnvoll, wenn es die Gnade der Gestaltung erlebt. Dann
wird es höchste Magie des Lebens. Denn nur der ganz Zerstückte kennt die
Sehnsucht nach Vollendung. Nur der Getriebene erreicht die Unendlichkeit.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199