Seite - 147 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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hinausgetrieben über Zeit und Welt, hinaus selbst über den äußersten Rand
seines Wesens,
Geschüttelt ach von unbekannten Fiebern,
Zitternd vor spitzen eisigen Frostpfeilen,
Von dir gejagt, Gedanke!
Unnennbarer! Verhüllter! Entsetzlicher!
schaudert er manchmal mit einem ungeheuren Schreckblick zurück, da er
erkennt, wie weit ihn sein Leben über alles Lebendige und alles Gewesene
hinausgeschleudert hat. Aber ein so übergewaltiger Anlauf kann nicht mehr
zurück: mit voller Bewußtheit erfüllt er das Schicksal, das sein geliebter
Hölderlin ihm vorausgedacht, sein Empedokles-Schicksal.
Heroische Landschaft ohne Himmel, gigantisches Spiel ohne Zuschauer,
Schweigen und immer gewaltsameres Schweigen um den fürchterlichsten
Schrei geistiger Einsamkeit – das ist die Tragödie Friedrich Nietzsches: man
müßte sie als eine der vielen sinnlosen Grausamkeiten der Natur
verabscheuen, hätte er ihr nicht selbst ein ekstatisches Ja gesagt und die
einzige Härte um ihrer Einzigkeit willen gewählt und geliebt. Denn freiwillig,
aus gesicherter Existenz und mit klarem Sinn hat er sich dies »besondere
Leben« aus dem tiefsten tragischen Instinkt gebaut und mit einer einzigen
Kraft die Götter herausgefordert, in ihm »den höchsten Grad der
Gefährlichkeitzu erproben, mit der ein Mensch sich lebt«. »Χαίρετε δαὶμοως«
»Seid gegrüßt, Dämonen!« Mit diesem heitern Ruf der Hybris beschwören
einmal in studentisch froher Nacht Nietzsche und seine philologischen
Freunde die Mächte: zur Geisterstunde schwenken sie vom Fenster aus den
gefüllten Gläsern roten Wein in die schlafende Straße der Baseler Stadt hinab
als Opfergabe an die Unsichtbaren. Es ist nur ein phantastischer Scherz, der
mit tieferer Ahnung sein Spiel treibt: aber die Dämonen hören den Ruf und
folgen dem, der sie gefordert, bis aus dem Spiel einer Nacht grandios die
Tragödie eines Schicksals wird. Nie aber verwehrt sich Nietzsche dem
ungeheuren Verlangen, von dem er sich übermächtig erfaßt und
fortgeschleudert fühlt: je härter ihn der Hammer trifft, um so heller klingt der
eherne Block seines Willens. Und auf diesem rotglühenden Amboß des
Leidens wird härter und härter mit jedem verdoppelten Schlag die Formel
geschmiedet, die seinen Geist dann ehern umpanzert, die »Formel für die
Größe am Menschen, amor fati: daß man nichts anders haben will, vorwärts
nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Notwendige nicht bloß
ertragen, noch weniger verhehlen, sondern es lieben«. Dieser sein
inbrünstiger Liebesgesang an die Mächte überklingt dithyrambisch den
eigenen Schmerzensschrei: zu Boden geknickt, zerdrückt vom Schweigen der
Welt, zerfressen von sich selber, geätzt mit allen Bitterkeiten des Leidens,
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199