Seite - 151 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Und dieses Chambre garnie ist überall dasselbe. Die Städte wechseln oft
die Namen, sie heißen bald Sorrent, bald Turin, bald Venedig, bald Nizza,
bald Marienbad, aber das Chambre garnie bleibt immer dasselbe, immer das
fremde, gemietete Zimmer mit kalten, alten, abgenutzten Möbeln, dem
Arbeitstisch, dem Schmerzensbett und der unendlichen Einsamkeit. Niemals
in all den langen Nomadenjahren heiteres Ruhn in freundschaftlich-munterm
Kreise, nie nachts der warme nackte Leib einer Frau an dem seinen, nie ein
Morgenrot von Ruhm nach den tausend durchschwiegenen schwarzen
Nächten der Arbeit! Oh, wieviel weiter, wie unendlich viel weiter ist
Nietzsches Einsamkeit als das pittoreske Höhenplateau von Sils-Maria, wo
jetzt die Touristen zwischen Lunch und Dinner seine Sphäre aufzusuchen
pflegen: seine Einsamkeit reicht über die ganze Welt, über sein ganzes Leben
von einem bis zum andern Ende.
Hin und wieder ein Gast, ein fremder Mensch, ein Besucher. Aber die
Kruste ist schon zu hart, zu stark um den sehnsüchtigen, den
menschenwilligen Kern: der Einsame atmet erleichtert auf, wenn der Fremde
ihn wieder seiner Einsamkeit läßt. Die »Vielsamkeit« ist in fünfzehn Jahren
endgültig verloren, Gespräch ermüdet, erschöpft, erbittert den an sich selbst
Zehrenden und doch nur auf sich selbst Hungernden. Manchmal glänzt ganz
kurz ein kleiner Strahl von Glück: er heißt Musik. Eine Aufführung von
»Carmen« in einem schlechten Theater in Nizza, ein paar Arien in einem
Konzert, eine Stunde am Klavier. Aber auch dieses Glück wird gewaltsam, es
»rührt ihn zu Tränen«. Das Entbehrte ist schon dermaßen verloren, daß es sich
als Schmerz anfühlt und weh tut.
Fünfzehn Jahre weit reicht dieser Höhlenweg von Chambre garnie zu
Chambre garnie, unbekannt, unerkannt, nur ihm selbst bekannt, dieser
grausige Gang im Schatten der Großstädte, durch schlecht möblierte Zimmer,
arm gedeckte Pensionen, schmierige Eisenbahnwagen und viele
Krankenstuben, indes draußen an der Oberfläche der Zeit das bunte
Jahrmarkttreiben der Künste und Wissenschaften sich heiser schreit: nur
Dostojewskis Flucht in den fast gleichen Jahren durch gleiche Armut, gleiche
Vergessenheit hat dieses graue kalte Gespensterlicht. Hier wie dort verbirgt
das Werk des Titanen die hagere Gestalt des armen Lazarus, der täglich
hinstirbt an seiner Not und seinem Gebrest und den nur wieder täglich das
Erlöserwunder des gestaltenden Willens aus seiner Tiefe weckt. Fünfzehn
Jahre lang steigt Nietzsche so aus dem Sarg seines Zimmers empor und
wieder hinab, von Leiden zu Leiden, von Tod zu Tod, von Auferstehung zu
Auferstehung, bis dann endlich das mit allen Energien überhitzte Gehirn
zerklirrt. Auf der Straße hingestürzt, finden fremde Menschen den fremdesten
Menschen der Zeit. Fremde bringen ihn hinauf in das fremde Zimmer der Via
Carlo Alberto in Turin. Niemand ist Zeuge seines geistigen Todes, so wenig
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199