Seite - 163 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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spürt man während ihres Denkaktes einen gesteigerten Blutdruck im Körper,
ein Fieber in ihrem Schicksal. Niemals hat man bei Kant jene erschütternde
Empfindung eines von seinen Gedanken vampirisch gefaßten, eines an der
Schöpfung und Gestaltung als einem entsetzlichen Muß leidenden Geistes:
und Schopenhauers Leben vom dreißigsten Jahr an, sobald er »Die Welt als
Wille und Vorstellung« einmal vollendet hat, trägt einen pensionistisch-
behaglichen Zug mit allen kleinen Verbitterungen des Stehengebliebenen. Sie
alle gehen mit gutem, festem, klarem Schritt vorwärts einen selbstgewählten
Weg, indes Nietzsche immer gejagt erscheint und immer in ein ihm selbst
Unbekanntes hinein. Darum gestaltet sich Nietzsches Erkenntnisgeschichte
(wie die Abenteuer Don Juans) durchaus dramatisch, eine Kette gefährlicher,
überraschender Episoden, eine Tragödie, die vollkommen pausenlos in
unablässiger zuckender Erregung von einer Peripetie zur nächsten höheren
überspringt, um dann schließlich bei dem unvermeidlichen Absturz ins
Bodenlose zu zerschmettern. Und gerade dies Ruhelose im Suchen, dies
unablässig Denken-Müssen, der dämonische Zwang zum Vorwärts gibt dieser
einzigen Existenz eine unerhörte Tragik und macht sie (durch die totale
Abwesenheit jedes handwerklichen, jedes bürgerlich gelassenen Zuges) uns
so verlockend als Kunstwerk. Nietzsche ist verflucht, ist verurteilt zum
unablässigen Denken, wie der Wilde Jäger im Märchen zur ewigen Jagd: was
seine Lust war, ist seine Qual, seine Not geworden, und sein Atem, sein Stil
hat das Springende, Heiße, Pochende eines Gehetzten, seine Seele das
Lechzende, Verschmachtende eines nie ausruhenden, eines nie befriedeten
Menschen: »Man gewinnt etwas lieb, und kaum ist es einem vom Grunde lieb
geworden, so sagt der Tyrann in uns (den wir sogar unser höheres Selbst
nennen möchten): Gerade das gib mir zum Opfer. Und wir geben es auch,
aber es ist Tierquälerei dabei und Verbranntsein mit langsamem Feuer.« Und
wie Aufschrei flüchtenden, vom Pfeil getroffenen Wildes klingt es gell, wenn
Nietzsche, der zum Erkennen Getriebene, der Ruhelose, aufschreit: »Es gibt
überall Gärten Armidens für mich und daher immer neues Losreißen und neue
Bitterkeiten des Herzens. Ich muß den Fuß heben, den müden, verwundeten
Fuß, und weil ich muß, so habe ich oft für das Schönste, das mich nicht halten
konnte, einen grimmigen Rückblick – weil es mich nicht halten konnte!«
Solche Schreie von innen, solch urmächtiges Aufstöhnen aus der letzten
Tiefe des Leidens vermißt man vollkommen in alldem, was sich vor
Nietzsche in Deutschland Philosophie genannt hat: bei den mittelalterlichen
Mystikern vielleicht, bei den Häretikern und Heiligen der Gotik bricht
manchmal ähnliche Schmerzensinbrunst durch dunkelgewandetes Wort.
Pascal, auch einer, der mit der ganzen Seele im Fegefeuer des Zweifels steht,
kennt diese Aufgewühltheit, diese Zernichtung der suchenden Seele, niemals
aber, weder bei Leibniz, noch bei Kant, Hegel und Schopenhauer, erschüttert
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199