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Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Seite - 167 -
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Redlichkeit, Wahrhaftigkeit, diese – ich sagte es ja schon – bürgerliche Tugend, die man sonst als notwendiges Ferment des geistigen Lebens sachlich empfindet, genießt man bei ihm wie Musik. Klarheit wird hier zu Magie. Dieser halbblinde, mühsam vor sich hin tappende, dieser eulenhaft im Dunkel lebende Mensch hatte in psychologicis einen Falkenblick, jenen Blick, der in einer Sekunde raubvogelhaft aus dem unendlichen Himmel seines Denkens auf das feinste Merkmal, auf die verzitterndsten, verschwindendsten Nuancen mit unfehlbarer Sicherheit niederstößt. Vor diesem unerhörten Erkenner, vor diesem einzigen Psychologen hilft kein Verbergen und Verstecken: sein Röntgenblick dringt durch Kleider und Haut und Fleisch und Haar bis ins Innerste jedes Problems hinab. Und genauso, wie seine Nerven auf jeden Druck der Atmosphäre wie ein präziser Apparat reagieren, so zeichnet sein gleich durchnervter Intellekt mit gleich fehllosem Rückschlag jede Nuance im Moralischen auf. Nietzsches Psychologie kommt gar nicht aus seinem diamantharten und klaren Verstand, sie ist immanenter Teil jener übersensiblen Wertempfindlichkeit seines ganzen Körpers, er schmeckt, er wittert – »mein Genie ist in meinen Nüstern« – alles nicht ganz Reine, nicht ganz Frische in menschlichen und geistigen Angelegenheiten absolut funktionell: »Mir eignet eine vollkommen unheimliche Reizbarkeit des Reinlichkeitsinstinktes, so daß ich die Nähe oder das Innerlichste, die Eingeweide jeder Seele physiologisch wahrnehme – rieche.« Mit unfehlbarer Sicherheit wittert er heraus, wo etwas mit Moralin, Kirchenweihrauch, Kunstlüge, Vaterlandsphrase, mit irgendeinem Narkotikum des Gewissens durchsetzt ist; er hat einen überscharfen Geruchssinn für alles Faulige, Brackige und Ungesunde, für den Armeleutegeruch im Geistigen; Klarheit, Reinheit, Sauberkeit bedeuten darum für seinen Intellekt so sehr notwendige Existenzbedingung, wie für seinen Körper – ich schilderte es früher – reine Luft mit klaren Konturen: hier ist wirklich Psychologie, wie er es selber fordert, »Auslegung des Leibes«, Verlängerung einer Nervendisposition ins Zerebrale. Alle andern Psychologen scheinen neben dieser seiner divinatorischen Sensibilität irgendwie dumpf und plump. Selbst Stendhal, der mit ähnlich zarten Nerven instrumentiert war, kann sich ihm nicht vergleichen, weil ihm die leidenschaftliche Betonung, der vehemente Ausschlag fehlt: er notiert nur lässig Beobachtungen, indes Nietzsche mit der ganzen Wucht seines Wesens sich auf jede einzelne Erkenntnis stürzt, so wie der Raubvogel aus seiner unendlichen Höhe auf ein winziges Getier. Einzig Dostojewski hat noch ähnlich hellsichtige Nerven (gleichfalls aus einer Überspannung, aus einer krankhaften, schmerzhaften Sensibilität); aber Dostojewski steht wieder hinter Nietzsche an Wahrhaftigkeit zurück. Er kann ungerecht sein und übertreiberisch mitten in seinem Erkennen, indes Nietzsche auch in der Ekstase nicht einen Zoll seiner Rechtlichkeit preisgibt. Nie war darum ein Mensch vielleicht so sehr naturbestimmter, geborener 167
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Der Kampf mit dem Dämon Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Titel
Der Kampf mit dem Dämon
Untertitel
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Autor
Stefan Zweig
Datum
1925
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
202
Schlagwörter
Literatur, Schriftsteller
Kategorien
Weiteres Belletristik

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Teil 1 - Hölderlin 15
    1. Die heilige Schar 17
    2. Kindheit 21
    3. Bildnis in Tübingen 26
    4. Mission des Dichters 29
    5. Der Mythus der Dichtung 34
    6. Phaeton oder die Begeisterung 40
    7. Ausfahrt in die Welt 46
    8. Gefährliche Begegnung 48
    9. Diotima 56
    10. Nachtigallengesang im Dunkeln 61
    11. Hyperion 63
    12. Der Tod des Empedokles 68
    13. Das Hölderlinsche Gedicht 74
    14. Sturz ins Unendliche 81
    15. Purpurne Finsternis 87
    16. Scardanelli 91
  3. Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
    1. Der Gejagte 97
    2. Bildnis des Bildnislosen 100
    3. Pathologie des Gefühls 103
    4. Lebensplan 111
    5. Ehrgeiz 115
    6. Der Zwang zum Drama 119
    7. Welt und Wesen 125
    8. Der Erzähler 129
    9. Die letzte Bindung 133
    10. Todesleidenschaft 136
    11. Musik des Untergangs 140
  4. Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
    1. Tragödie ohne Gestalten 145
    2. Doppelbildnis 149
    3. Apologie der Krankheit 153
    4. Der Don Juan der Erkenntnis 161
    5. Leidenschaft der Redlichkeit 166
    6. Wandlungen zu sich selbst 172
    7. Entdeckung des Südens 178
    8. Flucht zur Musik 185
    9. Die siebente Einsamkeit 189
    10. Der Tanz über dem Abgrund 193
    11. Der Erzieher zur Freiheit 199
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