Seite - 169 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Bild der Seite - 169 -
Text der Seite - 169 -
Diesen Radikalismus, diese Härte und Unerbittlichkeit hat der Psychologe
in Nietzsche nicht geschenkt bekommen vom Schicksal wie seinen
falkenhaften Blick: ihn hat er erkauft um den Preis seines ganzen Lebens,
seiner Ruhe, seines Schlafes, seiner Bequemlichkeit. Von Anfang an eine
weiche, gütige, umgängliche, eher heitere und durchaus wohlgesinnte
Natur, muß sich Nietzsche erst durch eine spartanische Gewaltsamkeit des
Willens unzugänglich und unerbittlich gegen das eigene Gefühl machen: sein
halbes Leben hat er gleichsam im Feuer verbracht. Man muß tief in ihn
hineinsehen, um die ganze Schmerzhaftigkeit dieses sittlichen Prozesses
nachfühlend zu erleben. Denn mit dieser »Schwäche«, mit seiner Milde und
Güte brennt Nietzsche auch alles Menschliche aus, das ihn mit den Menschen
verbindet; er verdirbt sich seine Freundschaften, seine Beziehungen, seine
Bindungen, und sein letztes Stück Leben wird allmählich so heiß, so
weißglühend in der eigenen Flamme, daß jeder sich die Hand verbrennt, der
an ihn rühren will. So wie man mit Höllenstein eine Wunde ätzt, um sie rein
zu erhalten, so beizt Nietzsche sein Gefühl gewaltsam aus, um es rein, um es
redlich zu bewahren; er behandelt sich selbst schonungslos mit dem
rotglühenden Eisen seines Willens zur äußersten Wahrhaftigkeit: auch seine
Einsamkeit ist darum eine erzwungene. Aber als echter Fanatiker gibt er alles
preis, was er liebt, selbst Richard Wagner, dessen Freundschaft ihm heiligste
Begegnung gewesen; er macht sich arm, er macht sich menscheneinsam und
verhaßt, einsiedlerisch und unglücklich, nur um wahr zu bleiben, nur um das
Apostolat der Redlichkeit vollkommen zu erfüllen. Wie bei allen
Dämonischen wird die Leidenschaft – bei ihm jene der Redlichkeit –
allmählich monomanisch und zehrt in ihrer Flamme den ganzen Besitz seines
Lebens auf; wie alle Dämonischen kennt er schließlich nichts mehr als diese
eine Leidenschaft. Man lasse darum doch endlich die schullehrerhafte Frage:
Was wollte Nietzsche, was meinte Nietzsche, welchem System, welcher
Weltanschauung strebt er zu? Nietzsche wollte nichts: in ihm genießt eine
übermächtige Leidenschaft zur Wahrheit sich selbst. Sie weiß von keinem
»Um zu« – Nietzsche denkt nicht, um die Welt zu verbessern oder zu
belehren, noch um sie oder sich zu beruhigen: sein ekstatischer Denkrausch
ist Selbstzweck, Selbstgenuß, eine ganz private, eine vollkommen
selbstsüchtige und elementare Wollust wie jede dämonische Leidenschaft.
Niemals geht es bei diesem ungeheuren Kraftaufwand um eine »Lehre« – er
ist längst hinaus über »die edle Kinderei und Anfängerei des Dogmatisierens«
– und noch weniger um eine Religion. (»In mir ist nichts von einem
Religionsstifter. Religionen sind Pöbelaffären.«) Nietzsche treibt Philosophie
wie eine Kunst, und als echter Künstler sucht er darum nicht Resultate, kalte
Endgültigkeiten, sondern nur einen Stil, den »großen Stil in der Moral«, und
ganz als Künstler erlebt und genießt er alle Schauer der plötzlichen
Inspirationen. Vielleicht, ja, wahrscheinlich bleibt es darum ein Wortirrtum,
169
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199