Seite - 170 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Bild der Seite - 170 -
Text der Seite - 170 -
Nietzsche einen Philosophen, also einen Freund der Sophia, der Weisheit, zu
nennen. Denn der Leidenschaftliche ist immer unweise, und nichts war
Nietzsche fremder, als zum gewohnten Philosophenziel zu kommen, zu einer
Schwebe des Gefühls, zu einer Rast und Entspannung, zu einer Tranquillitas,
einer gesättigten »braunen« Weisheit – zu dem starren Standpunkt einer
einmaligen Überzeugung. Er »braucht und verbraucht« Überzeugungen, wirft
wieder weg, was er gewinnt, und wäre darum besser ein Philaleth genannt, ein
leidenschaftlich Passionierter der Aletheia, der Wahrheit, jener jungfräulichen
grausamen Versuchergöttin, die immer wie Artemis ihre Liebhaber in ewige
Jagd treibt, um ihnen doch hinter allen ihren zerrissenen Schleiern immer
unerreichbar zu bleiben. Wahrheit, wie Nietzsche sie versteht, ist eben keine
starre, keine kristallene Form der Wahrheit, sondern der feurig glühende Wille
zum Wahrsein und Wahrbleiben, eine Lebenserfüllung im Sinne der höchsten
Fülle: Nietzsche will nie und niemals glücklich, immer aber wahrhaftig sein.
Er sucht nicht (wie neun Zehntel aller Philosophen) die Rast, sondern als
Knecht und Höriger des Dämons den Superlativ aller Erregung und
Bewegung. Jeder Kampf aber um das Unerreichbare steigert sich zum
Heldischen und alles Heroische wiederum notwendig empor in seine heiligste
Konsequenz, in den Untergang.
Denn ganz unausweichlich muß eine solche fanatische Überspannung des
Redlichkeitsverlangens, eine so unerbittliche und gefährliche Forderung wie
jene Nietzsches, mit der Welt in einen mörderischen, selbstmörderischen
Konflikt geraten. Alles Leben ist im letzten auf Konzilianz, auf
Nachgiebigkeit angelegt (was Goethe, der in seinem Wesen das Wesen der
Natur so weise wiederholte, frühzeitig erkannte und nachbildete). Es bedarf,
um sich im Gleichgewicht zu erhalten, ebenso wie die Menschen der
Mittelzustände, der Nachgiebigkeiten, der Kompromisse und Paktierungen.
Und wer die durchaus unnaturhafte, die absolut anthropomorphe Forderung
stellt, in dieser Welt nicht mitoberflächlich, nicht mitkonziliant, nicht
mitnachgiebig zu sein, wer sich gewaltsam loslösen will aus dem durch
Jahrtausende gewobenen Netz von Bindungen und konventionellen
Vereinbarungen, tritt ungewollt in tödliche Gegnerschaft zur Gesellschaft und
zur Natur. Je unerbittlicher ein einzelner die Forderung stellt, es »ganz rein
haben zu wollen«, um so feindseliger stellt sich die Zeit gegen ihn ein. Ob er
nun wie Hölderlin darauf besteht, das vorwiegend prosaische Leben einzig
dichterisch zu führen, oder wie Nietzsche, die unendliche Verwirrung der
irdischen Zusammenhänge »klar zu denken« – in jedem Fall bedeutet solches
unweise, aber heroische Verlangen eine Empörung gegen Sitte und Regel und
treibt den Verwegenen in unüberbrückbare Isoliertheit, in einen herrlichen,
aber aussichtslosen Krieg. Was Nietzsche die »tragische Gesinnung« nennt,
die Entschlossenheit zum Äußersten in irgendeinem Gefühl, greift über vom
170
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199