Seite - 174 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Student in Leipzig Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung« liest,
kann er zehn Tage nicht schlafen, sein ganzes Wesen wird von einem Zyklon
umgewühlt, der Glaube, auf den er sich stützt, stürzt schmetternd ein; und als
sich der geblendete Geist allmählich aus dem Taumel ernüchtert, findet er
eine vollkommen veränderte Weltanschauung, eine neue Lebensauffassung.
Ebenso wird die Begegnung mit Richard Wagner zum leidenschaftlichen
Liebeserlebnis, das die Spannkraft seines Gefühls ins Unendliche erweitert.
Von Triebschen nach Basel zurückgekehrt, hat sein Leben einen neuen Sinn:
der Philologe in ihm ist über Nacht abgestorben, die Perspektive von der
Vergangenheit, die Historie, hat sich in die Zukunft verschoben. Und eben
weil von dieser geistigen Liebesglut die ganze Seele durchdrungen war, reißt
dann die Loslösung von Wagner eine klaffende, beinahe tödliche Wunde, die
sich nie mehr schließt und die völlig vernarbt. Immer stürzt wie bei einem
Erdbeben bei jeder dieser geistigen Erschütterungen der ganze Bau seiner
Überzeugungen in Trümmer zusammen, immer wieder muß Nietzsche sich
von Grund aus neu gestalten. Nichts wächst sanft, still und unhörbar,
naturhaft organisch in ihm empor, nie dehnt und spannt sich in heimlicher
Arbeit das innere Wesen zu breiterem Stand: alles, selbst die eigenen Ideen,
schlagen in ihn hinein »wie Blitzschläge«, immer muß eine Welt in ihm
vernichtet sein, damit sein Kosmos neu entstehe. Diese Schlagwetterkraft der
Idee bei Nietzsche ist ohne Beispiel: »Ich will«, so schreibt er einmal, »von
der Expansion des Gefühls erlöst sein, die solche Produktionen mit sich
führen; es ist mir öfter der Gedanke gekommen, daß ich an so etwas plötzlich
sterben werde.« Und tatsächlich stirbt immer etwas bei seiner geistigen
Erneuerung ab, immer wird etwas im innern Gewebe zerrissen, gleichsam als
ob ein stählernes Messer hineingefahren wäre, das alle früheren Verbindungen
zertrennte. Nie vielleicht hat sich ein Mensch so entsetzlich qualvoll
entwickelt, so aus sich selber blutig herausgeschunden. Alle seine Bücher
sind darum eigentlich nichts anderes als die klinischen Berichte dieser
Operationen, die Methoden seiner Vivisektionen, eine Art Geburtshelferlehre
des freien Geistes. »Meine Bücher reden nur von meinen Überwindungen« –
sie sind die Geschichte seiner Verwandlungen, seiner Kindbetten und
Schwangerschaften, seiner Tode und Neuauferstehungen, die Geschichte der
gegen das eigene Ich rücksichtslos geführten und gerichteten Kriege,
Exekutionen und Züchtigungen, und in summa eine Biographie all der
Menschen, die Nietzsche die zwanzig Jahre seines geistigen Lebens gewesen
und geworden ist.
Das unvergleichbar Eigentümliche dieser fortwährenden Verwandlungen
Nietzsches ist nun, daß seine Lebenslinie im gewissen Sinne
eine rückläufige Bewegung darstellt. Nehmen wir Goethe – immer wieder
ihn, die sinnfälligste aller Erscheinungen – als den Prototyp einer organischen
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199