Seite - 175 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Natur, die geheimnisvoll mit dem Weltlauf im Einklange steht, so sehen wir,
daß die Formen seiner Entwicklung symbolisch die Lebensalter spiegeln.
Goethe ist überschwenglich-feurig als Jüngling, besonnen-tätig als Mann,
begrifflich-klar als Greis: der Rhythmus seines Denkens entspringt organisch
der Lebenstemperatur seines Blutes. Sein Chaos ist im Anfang (wie immer
beim Jüngling), seine Ordnung am Ende (wie immer beim Greis), er wird
konservativ, nachdem er Revolutionär gewesen, wissenschaftlich aus
anfänglichem Lyrismus, selbstbewahrend nach anfänglicher
Selbstverschwendung. Nietzsche geht nun den umgekehrten Weg wie Goethe;
strebt jener zu immer fülligerer Bindung seines Wesens, so drängt er zu
immer leidenschaftlicherer Auflösung: wie alle dämonischen Charaktere wird
er immer hitziger, unduldsamer, ungestümer, revolutionärer, chaotischer mit
den fortschreitenden Jahren. Schon die äußere Lebenshaltung deutet den
vollkommenen Rücklauf gegen gewohnte Entwicklung. Nietzsche beginnt
damit, alt zu sein. Mit vierundzwanzig Jahren, während seine Kommilitonen
noch Studentenulk treiben, mit den breiten Biergläsern Zerevis reiben und im
Gänsemarsch auf den Straßen herummarschieren, ist Nietzsche schon
wohlbestallter Professor, wirklicher Ordinarius der Philologie an der
berühmten Universität Basel. Seine wahren Freunde sind damals die fünfzig-
und sechzigjährigen Menschen, die großen und greisen Gelehrten, wie Jakob
Burckhardt und Ritschl, sein Intimus, der ernste und erste Künstler der Zeit:
Richard Wagner. Mit Gewalt unterdrückt er seine dichterischen Kräfte, den
Aufstrom der Musik: wie nur irgendein verknöcherter Hofrat sitzt er gebückt
über griechischen Handschriften, verfaßt Indices, begnügt sich an der
Revidierung verstaubter Pandekten. Der Blick des beginnenden Nietzsche ist
vollkommen nach rückwärts gewandt in die »Historie«, in Totes und
Gewesenes, seine Lebensfreude vermauert in eine Alte-Männer-Manie, seine
Heiterkeit, sein Übermut in eine professorale Würde, sein Blick in Bücher
und gelehrte Probleme. Mit siebenundzwanzig Jahren bricht die »Geburt der
Tragödie« einen ersten geheimen Stollen in die Gegenwart: noch trägt aber
der Verfasser die ernste Maske der Philologie auf seinem geistigen Gesicht,
und nur unterirdisch ist ein erstes Flackern darin von zukünftigen Dingen, ein
erstes Entbrennen der Liebe zur Gegenwart, der Leidenschaft zur Kunst. Mit
etwa dreißig Jahren, zu der Zeit, wo der normale Mensch seine bürgerliche
Karriere erst inauguriert, in dem Alter, wo Goethe Staatsrat, Kant und Schiller
Professoren wurden, hat Nietzsche seine Karriere bereits hinter sich geworfen
und das Katheder der Philologie aufatmend verlassen. Es ist sein erster
Abschluß gegen sich selbst, sein Abstoß in die eigene Welt, seine erste innere
Umschaltung, und in diesem Aufhören ist des Künstlers eigentlicher Anfang.
Der wahre Nietzsche beginnt mit seinem Einbruch in die Gegenwart, der
tragische Nietzsche, der unzeitgemäße, mit seinem Blick in die Zukunft, mit
seiner Sehnsucht nach dem neuen, dem kommenden Menschen. Dazwischen
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199