Seite - 180 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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gemessenen Raum, er nimmt, der Weise und Diätetische, nur genau so viel an,
als er meint, daß es seiner Natur förderlich sein könne (indes ein dionysischer
Charakter von allem nimmt bis zum Exzeß und zur Gefahr). Goethe will sich
nur bereichern an den Dingen, niemals sich aber an sie bis zur Neige, zum
Umgewandeltwerden verlieren. Darum ist auch sein letztes Wort an den
Süden bedächtig messender, sorgsam abwägender Dank und im Letzten doch
Abwehr: »Unter den löblichen Dingen, die ich auf dieser Reise gelernt habe«,
lautet sein Endwort über die italienische Reise, »ist auch dies, daß ich auf
keine Weise mehr allein sein und nicht außerhalb des Vaterlandes leben
kann.«
Diese wie eine Münze hartgeprägte Formel, man braucht sie nur
umzuwenden und hat in nuce Nietzsches Erlebnis des Südens. Sein Fazit ist
der glatte Gegensatz zu Goethes Resultat, nämlich, daß er von nun
ab nur mehr allein und nur mehr außerhalb des Vaterlandes zu leben vermag:
während Goethe aus Italien genau an den Punkt seines Ausganges
zurückkehrt wie von einer belehrenden und anregenden Reise, und in Koffer
und Kisten, in Herz und Hirn Wertvolles in ein Heim, in sein Heim,
wiederbringt, ist Nietzsche endgültig expatriiert und bei sich selber angelangt,
»Prinz Vogelfrei«, selig heimatlos, ohne Heim und Habe, für alle Zeit
losgelöst von jeder »Vaterländerei«, von jeder »patriotischen Einklemmung«.
Von nun an gibt es für ihn keine andere Perspektive mehr als die Vogelschau
des »guten Europäers«, jener »wesentlich übernationalen und nomadischen
Art Mensch«, deren unausbleibliches Kommen er atmosphärisch fühlt und in
der er sich einzig wohnhaft macht – in einem jenseitigen, einem zukünftigen
Reich. Nicht, wo er geboren war – Geburt ist Vergangenheit, »Historie« –,
sondern wo er zeugt, wo er selbst gebiert, ist für Nietzsche der geistige
Mensch zu Hause: »Ubi pater sum, ibi patria« – »Wo ich Vater bin, wo ich
zeuge, ist meine Heimat«, nicht wo er gezeugt wurde. Das wird die
unschätzbare, unverlierbare Gabe der Südenfahrt an Nietzsche, daß für ihn
nun die ganze Welt gleichzeitig Ausland und Heimat wird, daß er jenen
Vogelschaublick, jenen hellen, niederstoßenden Raubvogelblick von einem
Darüber behält, einen Blick nach allen Seiten, nach überall offenen
Horizonten (indes Goethe sich nach seinen Worten durch das »Umstellen mit
geschlossenen Horizonten« gefährdete, freilich aber auch bewahrte). Mit
seiner Übersiedlung ist Nietzsche für immer jenseits von allen seinen
Vergangenheiten, er hat sich endgültig entdeutscht, so wie er sich endgültig
entphilologisiert, entchristlicht, entmoralisiert; und nichts charakterisiert seine
unbändig fortschreitende exzessive Natur so sehr, als daß er niemals mehr
einen Schritt oder auch nur einen sehnsüchtig-wehmütigen Blick ins
Überwundene zurückgetan hat. Der Seefahrer ins Zukunftsland ist viel zu
beglückt, »mit dem schnellsten Schiff nach Kosmopolis« gefahren zu sein, als
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199