Seite - 181 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Bild der Seite - 181 -
Text der Seite - 181 -
daß es ihn jemals noch nach seiner einsprachigen, einseitigen, einförmigen
Heimat gelüstet: darum verurteilt sich jeder Versuch, ihn zurückzudeutschen,
als eine (jetzt sehr übliche) Gewaltsamkeit. Aus der Freiheit gibt es für den
Erzfreien kein Zurück mehr; seit er die Klarheit des italienischen Himmels
über sich erlebt, erschauert ihm die Seele vor jeder Art »Verdüsterung«, mag
sie nun von Wolkentrübe, Hörsaal, Kirche oder Kaserne kommen; seine
Lungen, seine atmosphärischen Nerven vertragen keinerlei Art Norden, keine
Deutschheit, keine Dumpfheit mehr: er kann nicht mehr leben bei
geschlossenen Fenstern, bei zugemachten Türen, im Halbdunkel, in einer
geistigen Dämmerung und Vernebelung. Wahr sein ist für ihn von nun ab klar
sein – weit sehen, scharfe Konturen ziehen bis in die Unendlichkeit; und seit
er dies Licht, dieses elementare, scheidende, schneidende Licht des Südens
mit allem Rausch seines Blutes vergöttert, hat er dem »eigentlichen deutschen
Teufel, dem Genius oder Dämon der Unklarheit«, für immer entsagt. Seine
fast gastronomische Reizbarkeit empfindet, seit er im Süden, seit er im
»Ausland« lebt, alles Deutsche als zu schwere, zu drückende Kost für sein
aufgeheitertes Gefühl, als eine »Indigestion«, ein Nie-fertig-Werden mit den
Problemen, ein Nachschleppen und Wälzen der Seele durch das ganze Leben
hin: das Deutsche ist ihm nicht mehr und niemals mehr frei und leicht genug.
Selbst seine einst geliebtesten Werke verursachen ihm jetzt eine Art geistigen
Magendrucks: in den »Meistersingern« spürt er das Schwere, Verschnörkelte,
Barocke, die gewaltsame Anstrengung zur Heiterkeit, bei Schopenhauer die
verdüsterten Eingeweide, bei Kant den hypokritischen Beigeschmack von
Staatsmoralin, bei Goethe die Beschwertheit mit Amt und Würde, die
gewaltsam abgesperrten Horizonte. Aber es ist nicht nur Unbehagen des
Geistigen an der damaligen (wirklich am tiefsten Punkte angelangten)
geistigen Verfassung des neuen, allzu neuen Deutschland, nicht nur politische
Erbitterung über das »Reich« und alle jene, die dem Kanonenideal die
deutsche Idee geopfert haben, nicht bloß ästhetischer Abscheu vor dem
Plüschmöbel-Deutschland und Siegessäulen-Berlin. Seine neue Südlehre
verlangt nun von allen Problemen, und nicht bloß den nationalen, von der
ganzen Lebenshaltung klare, freiströmende, sonnenhafte Helligkeit, »Licht,
nur Licht auch über schlimme Dinge«, höchste Lust durch höchste
Deutlichkeit – eine »gaya scienza«, eine heitere Wissenschaft, nicht die
mürrisch-tragische des »Lernvolkes«, die deutsche geduldige, sachliche,
professoral-ernste Bildungsgelehrsamkeit, die nach Stube und Hörsaal
muffelt. Nicht aus dem Geist, nicht aus der Intellektualität, sondern aus Nerv,
Herz, Gefühl und Eingeweide kommt seine endgültige Absage an den
Norden, an Deutschland, an die Heimat; sie ist Aufschrei von Lungen, die
endlich ihre freie Luft spüren, Jubel eines Entlasteten, der endlich das »Klima
seiner Seele« gefunden hat: die Freiheit. Darum dies sein Jauchzen aus dem
Innersten, der boshafte Jubelschrei: »Ich entsprang!«
181
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199