Seite - 186 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Bild der Seite - 186 -
Text der Seite - 186 -
auch den starrsten Damm, zwingt ihm die Träne ab als Tribut und Musik,
gedichtete, herrlichste Musik als ungewollten Dank. Musik – wer hat es nicht
erlebt? – braucht immer ein Aufgetansein, ein Offensein, ein Weibwerden in
einem selig lechzenden Sinne, um fruchtend in ein Gefühl einzugehen: so
trifft sie auch Nietzsche im Augenblick, da der Süden ihn weich aufgetan, in
dem Zustand gierigsten, lechzendsten Lebensverlangens. Mit einer
merkwürdigen Symbolik setzt sie gerade in der Sekunde ein, da sein Leben
sich vom Gelassenen, vom Episch-Fortgebildeten durch eine plötzliche
Katharsis zum Tragischen wendet; die »Geburt der Tragödie aus dem Geist
der Musik« vermeinte er darzustellen und erlebt die Umkehr: die Geburt der
Musik aus dem Geist der Tragödie. Die Übermächtigkeit der neuen Gefühle
findet ihren Ausdruck nicht mehr in der gemessenen Rede, sie drängt nach
stärkerem Element, nach höherer Magie: »Du wirst singen müssen, o du
meine Seele.«
Gerade weil diese unterste, die dämonische Quelle seines Wesens so lange
verschüttet war mit Philologie, Gelehrsamkeit und Gleichgültigkeit, schießt
sie so gewaltsam auf und preßt ihren flüssigen Strahl mit solcher Druckkraft
bis in die letzten Nervenfasern, in die letzte Intonation seines Stils. Wie nach
einer Infiltration neuer Vitalität beginnt die Sprache, die bis dahin nur
darstellen wollte, mit einemmal musikalisch zu atmen: das vortragshafte
Andante maestoso, der schwere Sprechstil seiner früheren Schriften, hat jetzt
das »Undulatorische«, die vielfache Bewegung der Musik. Alle kleinen
Raffinements eines Virtuosen funkeln darin auf, die kleinen spitzen Staccati
der Aphorismen, das lyrische Sordino in den Gesängen, die Pizzicati des
Spottes, die kühnen Verschleifungen und Harmonisationen von Prosa, Spruch
und Gedicht. Selbst die Interpunktionen, das Ungesprochene der Sprache, die
Gedankenstriche, die Unterstreichungen haben absolut die Wirkung von
musikalischen Vortragszeichen: nie hat man so sehr in der deutschen Sprache
das Gefühl einer instrumentierten Prosa gehabt. Ihre nie vordem erreichte
Polyphonie bis ins einzelne durchzufühlen, bedeutet für einen Sprachartisten
gleiche Wollust wie für einen Musiker das Studium einer Meisterpartitur:
wieviel versteckte und verkapselte Harmonie hinter den überspitzten
Dissonanzen, wieviel klarer Formgeist in der erst rauschhaften Fülle! Denn
nicht nur die Nervenenden der Sprache vibrieren von Musikalität: auch die
Werke selbst sind symphonisch empfunden, sie entstammen nicht mehr
geistig planender, kalt gedanklicher Architektur, sondern unmittelbar
musikalischer Inspiration. Vom »Zarathustra« hat er selbst gesagt, daß er »im
Geiste des ersten Satzes der neunten Symphonie« geschrieben sei; und das
sprachlich einzige, wahrhaft göttliche Vorspiel zum »Ecce homo« – sind diese
monumentalen Sätze nicht ein Orgelpräludium, für einen ungeheuren
zukünftigen Dom gedacht? Gedichte wie das »Nachtlied«, das »Gondellied«,
186
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199