Seite - 195 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz
wirkt, sondern als bedingt, als herausgefordert, als einenotwendige Farbe
innerhalb eines solchen Lichtüberflusses; ein Instinkt rhythmischer
Verhältnisse, der weite Räume von Formen überspannt – die Länge, das
Bedürfnis nach einem weitgespannten Rhythmus ist beinahe das Maß für die
Gewalt der Inspiration, eine Art Ausgleich gegen deren Druck und
Spannung … Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in
einem Sturme von Freiheitsgefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von
Göttlichkeit … Die Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses ist das
Merkwürdigste; man hat keinen Begriff mehr, was Bild, was Gleichnis ist,
alles bietet sich als der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck. Es
scheint wirklich, um an ein Wort Zarathustras zu erinnern, als ob die Dinge
selber herankämen und sich zum Gleichnis anböten (›– hier kommen alle
Dinge liebkosend zu deiner Rede und schmeicheln dir; denn sie wollen auf
deinem Rücken reiten. Auf jedem Gleichnis reitest du hier zu jeder Wahrheit.
Hier springen dir alles Seins Worte und Wort-Schreine auf; alles Sein will hier
Wort werden, alles Werden will von dir reden lernen –‹). Dies ist meine
Erfahrung von Inspiration; ich zweifle nicht, daß man Jahrtausende
zurückgehen muß, um jemanden zu finden, der mir sagen darf: es ist auch die
meine.«
Dieser taumelnde, dieser selbst-hymnische Glückston, ich weiß es, die
Ärzte sehen heute darin die Euphorie, das Endlustgefühl des Untergehenden
und das Stigma der Megalomanie, jener bei Geisteskranken typischen
Selbstüberhebung. Aber doch, ich frage, wann ist mit einer so diamantenen
Klarheit je der Zustand des schöpferischen Rausches so ins Ewige gegraben
worden? Denn dies ist ja das eigenste, das unerhörte Wunder der letzten
Werke Nietzsches, daß ein höchster Grad der Klarheit den höchsten Grad des
Rausches traumwandlerisch mitbegleitet, daß sie klug sind wie Schlangen
inmitten ihrer bacchantischen, fast bestialischen Kraft. Sonst haben die
Überschwenglichen, haben alle jene, denen Dionysos die Seele trunken
gemacht hat, eine schwere Lippe, ein von Dunkel durchklungenes Wort. Wie
aus Träumen reden sie deutsam und verwirrt; sie haben alle, die in den
Abgrund hinabgesehen, den orphischen, den pythischen, den
urgeheimnisvollen Ton einer Sprache von drüben her, den nur unsere Sinne
fürchtig erahnen und unser Geist nicht mehr ganz versteht – Nietzsche aber ist
diamantenklar inmitten des Rausches, unaufzehrbar hart und schneidend
bleibt sein Wort in allen Feuern der Trunkenheit. Vielleicht hat sich noch nie
ein lebendiger Mensch so weit und so wach, so vollkommen schwindelfrei
und klar über den Rand des Irrsinns hinabgebeugt: Nietzsches Ausdruck ist
nicht (wie Hölderlin, wie die Mystiker undPythischen) angefärbt, angedunkelt
vom Geheimnis; im Gegenteil, nie war er klarer und wahrer als in seinen
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199