Seite - 196 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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letzten Sekunden, ja man könnte sagen: überlichtet von Geheimnis. Freilich,
es ist ein gefährliches Licht, das hier auffunkelt, es hat die phantastische
kranke Helligkeit einer Mitternachtssonne, die rotglühend über Eisbergen
aufsteigt, es ist ein Nordlicht der Seele, das in seiner einmaligen Grandiosität
erschauern macht. Es wärmt nicht und erschreckt; es blendet nicht, aber es
tötet. Nicht vom dunkel wogenden Rhythmus des Gefühls wie Hölderlin,
nicht von flutender Schwermut wird er hinabgerissen: er verbrennt an seiner
eigenen Helligkeit, in einer Art Sonnenstich allerhöchster Glut, allerhöchster
Leuchtkraft, einer weißglühenden und nicht mehr zu ertragenden Heiterkeit.
Nietzsches Zusammenbruch ist eine Art Lichttod, ein Verkohltwerden des
Geistes von der eigenen Stichflamme.
Schon lange flammt und zuckt ihm die Seele von diesen zu starken
Helligkeiten; er selbst erschrickt oft, der magisch Wissende, über diese
Lichtfülle von oben und die wilden Heiterkeiten seiner Seele. »Die
Intensitäten meines Gefühls machen mich schauern und lachen.« Aber nichts
vermag diesen ekstatischen Strom mehr zu dämmen, dieses aus dem Himmel
gleich Falken Herabstürzen von Gedanken, die ihn klirrend und klingend
umschwirren Tag und Nacht, Nacht und Tag, Stunde um Stunde, bis ihm das
Blut in den Schläfen dröhnt. In der Nacht hilft Chloral, baut ein schwaches
Schutzdach Schlaf gegen den prasselnden Wolkenbruch der Visionen. Aber
die Nerven glühen wie brennende Drähte: sein ganzes Wesen wird
Elektrizität, zuckendes, zündendes, blitzartig flirrendes Licht.
Ist es ein Wunder, wenn in diesem Wirbel inspirativer Geschwindigkeiten,
in diesem unaufhörlichen Sturzbach von rauschenden Gedanken er den harten
ebenen Boden unter den Füßen verliert, wenn Nietzsche, der von allen
Dämonen des Geistes Zerrissene, nicht mehr weiß, wer er ist, wenn er, der
Grenzenlose, seine Grenzen nicht mehr erkennt? Schon lange scheut sich
seine Hand (seit sie sich dem Diktat höherer Mächte und nicht mehr dem Ich
gehorsam fühlt), unter Briefe seinen eigenen Namen Friedrich Nietzsche zu
setzen. Denn der protestantische kleine Pfarrerssohn aus Naumburg, so mag
er dunkel fühlen, er ist es längst nicht mehr, der so Ungeheures erlebt,
sondern irgendein Wesen, das noch keinen Namen hat, etwas Übergewaltiges,
ein neuer Märtyrer der Menschheit. So unterschreibt er immer nur mit
symbolischen Zeichen: »Das Untier«, »Der Gekreuzigte«, »Der Antichrist«,
»Dionysos«, seine letzten Botschaften, seit er sich mit den Mächten, den
übergewaltigen, als eins fühlt, selbst nicht mehr als Mensch, sondern als
Macht und Sendung. »Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.« »Ich bin ein
welthistorisches Ereignis, das die Geschichte der Menschheit in zwei Teile
spaltet« – so schreit er in gewaltigster Hybris ins schauerliche Schweigen.
Wie Napoleon im brennenden Moskau, vor sich den unendlichen russischen
Winter, rings um sich nur jämmerliche Trümmer der gewaltigen Armee, noch
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199