Seite - 197 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Bild der Seite - 197 -
Text der Seite - 197 -
immer die monumentalsten, drohendsten Proklamationen erläßt (großartig bis
an den Rand der Lächerlichkeit), so verfaßt Nietzsche mitten im brennenden
Kreml seines Gehirns die furchtbarsten Pamphlete: er befiehlt, daß der
deutsche Kaiser nach Rom komme, damit er ihn füsilieren lasse; er fordert die
europäischen Mächte zu einer militärischen Aktion gegen Deutschland auf,
das er in eine eiserne Zwangsjacke schließen will. Nie hat apokalyptischere
Wut wilder ins Leere gewütet, nie so herrliche Hybris einen Geist über alles
Irdische hinausgetrieben. Wie Hammerschläge fallen seine Worte gegen das
ganze Weltgebäude: er verlangt, daß der Kalender umgestellt werde von der
Geburt Christi auf das Erscheinen seines Antichrists, er stellt sein Bildnis
über alle Gestalten der Zeiten – selbst der kranke Wahn Nietzsches ist noch
größer als jener aller andern im Geist Geblendeten; auch hier wie in allem
durchwaltet ihn das herrlichste, das tödlichste Zuviel.
Nie ist auf einen schaffenden Menschen ein solcher Strom von Inspiration
gefallen wie auf Nietzsche in diesem einzigen Herbst. »So ist nie gedichtet,
nie gefühlt, nie gelitten worden: so leidet ein Gott, ein Dionysos« – diese
Worte mitten im beginnenden Wahn, sie sind furchtbar wahr. Denn dies kleine
Zimmer des vierten Stockes und die Höhle von Sils-Maria, sie beherbergen
zugleich mit dem kranken, nervenzuckenden Menschen Friedrich Nietzsche
die kühnsten Gedanken, die herrlichsten Worte, die das Jahrhundert an seinem
Ende empfunden: der schöpferische Geist hat sich geflüchtet unter das
niedere sonnenverbrannte Dach und wirft über einen armen, einen einzigen,
namenlosen, scheuen, verlorenen Menschen seine ganz Fülle – unendlich
mehr als ein einzelner Mensch ertragen kann. Und in diesem engen Raume,
erstickt von Unendlichkeit, taumelt und tappt der erschreckte, der arme
irdische Sinn unter der Wucht der Blitzschläge, peitschenden Erleuchtungen
und Verkündungen. Ein Gott, so fühlt er ganz wie der geistgeblendete
Hölderlin, ein Gott ist über ihm, ein feuriger Gott, dessen Blick die Augen
nicht ertragen und dessen Anhauch verbrennt … immer hebt sich der
Zitternde auf, sein Antlitz zu erkennen, und lose stürzen ihm die Gedanken
auseinander … Denn er, der dies Unsagbare fühlt und dichtet und leidet … ist
er – ist er nicht selber Gott … ist wieder ein Gott der Welt, nachdem er den
andern getötet … Wer, wer ist er? … Ist er der Gekreuzigte, der tote Gott oder
der lebendige … Der Gott seiner Jugend, Dionysos … oder ist er beides
zugleich, der gekreuzigte Dionysos … Immer mehr verwirren sich die
Gedanken, der Strom braust zu laut von zu viel Licht … Ist es noch Licht? Ist
es nicht Musik? Das kleine Zimmer im vierten Stock der Via Alberto beginnt
zu tönen, alle Sphären leuchten und schwingen, alle Himmel sind verklärt …
Oh, welche Musik: die Tränen fluten ihm in den Bart, warm, heiß … oh,
welche göttliche Zärtlichkeit, welches smaragdene Glück … Und jetzt …
wieviel Helligkeit … Und unten auf der Straße, alle Menschen lächeln ihm
197
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199