Seite - 200 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Täler fällt – keiner hat so meteorologisch sicher wie alles einzelne auch die
Gewalt des kommenden Kataklysmas unserer Kultur vorausgefühlt. Aber das
ist die ewige Tragik des Geistes, daß seine höhere klare Sphäre der Schau sich
nicht mitteilt der dumpfen stockenden Luft ihrer Zeit, daß die Gegenwart
niemals fühlt und faßt, wenn über ihr ein Zeichen am Himmel des Geistes
steht und die Flügel der Weissagung rauschen. Selbst der klarste Genius des
Jahrhunderts war nicht deutlich genug, als daß die Zeit ihn verstanden hätte:
wie jener Marathonläufer, der den Untergang des Perserreiches gesehen und,
mit pochenden Lungen die vielen Meilen nach Athen rennend, die Botschaft
nur in einem einzigen ekstatischen Schrei künden konnte (dann brach ihm das
Blut tödlich aus der überhitzten Brust), so konnte Nietzsche die entsetzliche
Katastrophe unserer Kultur nur verkünden und nicht verhindern. Nur einen
ungeheuren, einen unvergeßlichen ekstatischen Schrei warf er in die Zeit:
dann brach ihm der Geist.
Seine wahre Tat aber für uns und alle hat sein bester Leser, Jakob
Burckhardt, nach meinem Gefühl am besten ausgesagt, als er ihm schrieb,
seine Bücher »vermehrten die Unabhängigkeit in der Welt«. Ausdrücklich
sagte der kluge, weitwissende Mann: die Unabhängigkeit in der Welt; nicht
die Unabhängigkeit der Welt. Denn die Unabhängigkeit existiert immer nur
im Individuum, in der Einzahl, sie läßt sich nicht multiplizieren mit den
Massen, sie wächst nicht aus Büchern und Bildung: »es gibt keine heroischen
Zeitalter, es gibt nur heroische Menschen«. Immer ist es der einzelne, der sie
mitten in die Welt und immer nur für sich allein errichtet. Denn jeder freie
Geist ist ein Alexander, er erobert im Sturm alle Provinzen und Reiche, aber
er hat keine Erben: immer verfällt ein Reich der Freiheit an Diadochen und
Verwalter, an Kommentatoren und Erklärer, die Sklaven werden am Wort.
Nietzsches großartige Unabhängigkeit schenkt darum keine Lehre (wie die
Schulhaften meinen), sondern eine Atmosphäre, die unendlich klare,
überhelle, von Leidenschaft durchstürmte Atmosphäre einer dämonischen
Natur, die sich in Gewitter und Zerstörung erlöst. Tritt man in seine Bücher,
so fühlt man Ozon, elementarische von aller Dumpfheit, Vernebelung und
Schwüle entschwängerte Luft: man sieht frei in dieser heroischen Landschaft
bis in alle Himmel hinauf und atmet eine einzig durchsichtige, messerscharfe
Luft, eine Luft für starke Herzen und freie Geister. Immer ist Freiheit
Nietzsches letzter Sinn – Sinn seines Lebens und Sinn seines Untergangs: wie
die Natur Wirbelstürme und Zyklone, um ihre Überkraft in einer Revolte
gegen ihren eigenen Bestand gewaltsam auszulassen, so braucht der Geist von
Zeit zu Zeit einen dämonischen Menschen, dessen Übergewalt sich auflehnt
gegen die Gemeinschaft des Denkens und die Monotonie der Moral. Einen
Menschen, der zerstört und der sich selber zerstört; aber diese heroischen
Empörer sind nicht minder Bildner und Bilder des Weltalls als die stillen
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199