Seite - 93 - in Kreuzenstein - Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
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dabei um stilistische Differenzen der beiden Architekten oder
bewusste gestalterische Entscheidungen des Bauherrn handelt,
kann aufgrund des Verlusts der Zeichnungen nicht mehr festge
stellt werden.
Der Eintritt des jungen Walcher dürfte die Präsenz Wilczeks
auf der Baustelle verstärkt haben, fiel aber auch in ein für die wei
tere Baugeschichte entscheidendes Jahr : Damals nämlich wurde
mit dem sogenannten Kaschauer Domgang die mit Abstand größte
Spolie erworben, die dem bereits weit fortgeschrittenen Bau inte
griert werden musste. In Kaschau / Košice war im selben Jahr die
um 1450 entstandene spätgotische Westempore der Elisabethkir
che im Zuge von Restaurierungsarbeiten vollständig demoliert
worden.327 Wilczek entdeckte die Teile » vor dem Dom als Bruch
stein zum Verkauf aufgeschichtet, ebenso schöne Wasserspeier,
Sockel und Konsolen, und kaufte alles zum gewöhnlichen Materi
alpreis. «328 Aufgrund des vorzüglichen Erhaltungszustandes und
der relativen Vollständigkeit wurde die gesamte Empore unver
ändert auf Kreuzenstein wiedererrichtet. Für den Einbau der Bo
genfolge wurde der Burghof – wohl entgegen der ursprünglichen
Planung – zweigeteilt.329 Sowohl der Gadem als auch das große
Stiegenhaus, beide nach 1895 errichtet, mussten in Anlage, Kon
struktion und Form der monumentalen Spolie angepasst werden.
Eine 1898 / 99 in der » Wiener Bauindustrie
Zeitung « publi
zierte Aufnahme zeigt die Nordfassade des soeben fertiggestell
ten Palas 〚 50 〛 : Am östlichen Ende dieses Traktes – dort, wo we
nig später das Hauptstiegenhaus entstehen wird – stehen noch
nackte Mauerreste, und Sparren ragen aus dem Dachstuhl über
dem Palas. Auch die rund um die Burg laufende Wehrmauer ist
hier zwar bereits aufgeführt, noch fehlt aber die Zinnenbekrö
nung. An die Mauer des Palas lehnt sich eine heute nicht mehr vor
handene Baracke, die vielleicht den Arbeitern als Werkstatt oder
Unterkunft diente.
1898 veröffentlichte Camillo Sitte ( 1843 – 1903 ) im ersten Jahr
gang der Zeitschrift » Kunst und Kunsthandwerk « – dem offiziel
len Organ des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und In
dustrie – den ersten umfangreichen Bericht über Kreuzenstein,
der Auskunft über die Vorstellung gibt, die der Exponent des » Ma
lerischen « bzw. » Organischen « im Städtebau vom Mittelalter
hatte.330 Besonders beeindruckt war der Autor vom hohen kunst
handwerklichen Niveau der Ausführung und dem harmonischen
Zusammenspiel von Architektur und Ausstattung : » Nirgends eine
Wiederholung, nirgends blosse Raumfüllung oder blosse architek
tonische Gemeinplätze ; nirgends ist auch nur eine Spur von jener
hastigen Eile zu sehen, mit der gegenwärtig selbst Monumental
bauten höchster Bedeutsamkeit emporgejagt werden. «331 Damals
93Wiederaufbau
Kreuzenstein
Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Kreuzenstein
- Untertitel
- Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
- Autor
- Andreas Nierhaus
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79557-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 258