Seite - 115 - in Kreuzenstein - Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
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hypertrophes Juwel sitzt dieses extrovertiere Schaustück in der
ansonsten schmucklosen Südseite. Nicht weniger als 18 mittelal
terliche Reliefs sind als Spolien in die Wände eingelassen.366 Bei
nahe überdeutlich ist die Gestaltung dieser Nische, die auch zeit
genössische Anregungen verarbeitet,367 auf die Architektur von
San Marco in Venedig bezogen : Die ineinander gestaffelten Arka
denebenen übersetzen die Wandgliederung des zweiten Jochs im
Obergeschoß der Südfassade des Markusdomes ins Tiefenräumli
che, der große Bogen mit seinen kräftigen Reliefs ist ein beinahe
wörtliches Zitat der Archivolte des Hauptportals der Basilika. In
einem für das 19. Jahrhundert charakteristischen Verfahren wer
den diese Verweise mit einer Adaption des » Palladio Motivs «
verbunden, das zwar in der italienischen Renaissance etabliert
wurde, nun aber mit den formalen Mitteln der Romanik verwirk
licht wird. Camillo Sitte schreibt dazu : » So muss man sich die Söl
ler der reichsten Burgen vorstellen, von denen in den höfischen
Dichtungen berichtet wird, dass von ihnen aus die edlen Damen
den Turnieren und reckenhaften Zweikämpfen der fahrenden
Ritter zugesehen haben. «368 Zahlreiche Skizzen im Nachlass des
Architekten Kayser, darunter ein mit 17. Dezember 1887 datierter,
der Ausführung weitgehend entsprechender Entwurf, aber auch
eine Variante in barocken Formen, die für einen anderen Zweck
gedacht war, sind Belege für die intensive Auseinandersetzung
mit diesem prominenten Motiv.369 Kontrastreich ist neben den
kaum zu steigernden architektonischen, figürlichen und räum
lichen Reichtum des Söllers mit seiner riesigen, torartigen Öff
nung die auffällig schlichte Fassade des Gadem gesetzt, der durch
einen Treppengiebel als eigener Bauteil ausgewiesen ist. Dieser
ist in der retrospektiv konstruierten Baugeschichte der Burg der
vermeintlich älteste Teil der Anlage, da man » seine, für das 12. bis
13. Jahrhundert angenommene Ausführung an der nahezu fens
terlosen Bauflucht gegenüber dem Zwinger und an der massigen
Erscheinung dem Burghofe zu « erkenne : » Dementsprechend
sind auch seine Mauern aus Buckelsteinen beziehungsweise Qua
dersteinen mit tiefliegenden Fugen ausgeführt. «370 Eine lang ge
streckte, durch Erker gegliederte Wehrmauer, hinter der sich der
Zwinger verbirgt, führt einige Meter vor der Flucht der Südseite
vom Torturm zum halbrunden Turm und verleiht so auch dieser
Ansicht tiefenräumliche Qualitäten.
Die gegenüber der West und Südseite eindeutig untergeord
nete, durch die mit Schießscharten bestückten Mauern äußerst
wehrhaft erscheinende Ostseite 〚 63 〛 wird vom mächtigen hal
brunden Turm dominiert.371 Davor liegt ein Zwingergärtlein, das
baulich als Teil eines von Zinnen bekrönten, von Erkern unter
brochenen Wehrgangs ausgewiesen ist, der die gesamte Ost ,
115Außenansichten
Kreuzenstein
Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Kreuzenstein
- Untertitel
- Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
- Autor
- Andreas Nierhaus
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79557-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 258