Seite - 140 - in Kreuzenstein - Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
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sind. Nach Überwinden der engen Stiege bietet sich dem Besu
cher hier der Blick durch die Rundbogenstellungen der Loggia auf
den von den Arkaden des Kaschauer Domgangs begrenzten inne
ren Burghof. Hinter der Halle liegt gegen Westen das Parzivalzim
mer. 〚89 〛 Der Raum ist dabei weniger als fiktiver Aufenthaltsort
des Helden in Wolfram von Eschenbachs Epos zu interpretieren,
sondern verweist aufgrund des entschieden spätgotischen Cha
rakters seiner Ausstattung und Ausmalung viel eher auf die Re
zeption des Parzival
Stoffes am Ende des Mittelalters, insbeson
dere in der Zeit Kaiser Maximilians I. und stellt damit gleichsam
die Bezüge zwischen hochmittelalterlichem und spätmittelalter
lichem Rittertum aus.429 Damit ist hier eine weitere Spur zu ei
nem tieferen Verständnis Kreuzensteins zu finden, das als Modell
einer Burg des Mittelalters auch seinen idealen literarischen Ge
stalten – hier vermittelt durch die wiederum historisierend
re
trospektive Betrachtung des Spätmittelalters – Unterkunft gibt.
Zurück in der Loggia, erreicht man zunächst die im Nordwest
turm gelegene sechseckige, kuppelgewölbte, mit ornamentierten
Bodenfliesen und einem offenen Kamin ausgestattete Vorhalle
des Großen Saales, deren aus Zirbelholz geschnitzte Vertäfelung
aus Thüringen stammt.430 In einem der Fenster des um einige
Stufen erhöhten Erkers, von dem aus eine Türe in die darüber
liegende Herrenstube ( siehe unten ) führt, erinnert eine Wappen
scheibe an den Besuch des deutschen Kaisers Wilhelm II. im Jahr
1906.431 Durch einen von Säulen getragenen Rundbogen tritt der
Besucher aus der Vorhalle kommend auf eine aus Nürnberg stam
mende hölzerne Estrade,432 die einen Einblick in den ein halbes
Geschoß tiefer liegenden profanen Hauptraum der Burg eröffnet.
〚 90, 91 〛 Der längsrechteckige, dreieinhalb Joche umfassende Saal
wird von einem Tonnengewölbe mit aufgesetzten Schlingrippen
überspannt, das auf seitlichen Wandpfeilern ruht. Wie die Ka
pellenwände durch tiefe, nischenartige Blendarkaden gegliedert
sind, so werden hier die Längswände durch Wandpfeiler rhyth
misiert, die an der nördlichen Außenwand zu tiefen Fensterni
schen erweitert sind. Die Erinnerung an Benedikt Rieds Wladis
lawsaal auf der Prager Burg, die sich beim Anblick dieses Raumes
trotz aller gravierenden Unterschiede einstellt, war vom Bau
herrn gewünscht.433 Die Wände sind mit Holz vertäfelt, auch der
Boden ist aus Holz. Beherrschendes Ausstattungsstück ist der an
der Ostwand zwischen zwei – wie zur Kontrastwirkung auffäl
lig klein dimensionierten – schulterbogigen Portalen aufgestellte
monumentale sogenannte Sakristeischrank aus Neustift bei Bri
xen, eines der bedeutendsten Werke spätgotischer Möbelkunst,
der ursprünglich als Heiltumsschrein gedient hatte.434 Der große
Ofen mit figürlichen Kacheln an der südlichen Saalwand ist die
140 Eine moderne Burg
Kreuzenstein
Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Kreuzenstein
- Untertitel
- Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
- Autor
- Andreas Nierhaus
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79557-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 258