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Kriegsgefangenschaft
Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung
Die Gefangennahme brachte selbst für den mittlerweile kriegserfahrenen Rolf unvor-
stellbare Lebensbedingungen mit sich, die sein physisches und psychisches Leistungs-
vermögen aufs Höchste forderten. Wie die Monate davor führte Rolf auch in dieser Zeit
ein Tagebuch, wobei die Eintragungen in dem kleinen Taschenkalender erfolgten, den er
schon die letzten Wochen zuvor benützt hatte. Der Vorteil dieses kleinen Büchleins lag
darin, dass er es bei den immer wiederkehrenden Durchsuchungen, bei denen prinzipi-
ell alles Schriftliche konfisziert wurde, gut – wie z. B. im Mantelsaum – verstecken konnte.
Während der ersten zwei Jahre der Gefangenschaft erfolgte beinahe täglich eine Eintra-
gung. Später benützte Rolf sein Tagebuch seltener. Die Tage gingen in relativer Eintö-
nigkeit dahin, sodass ihm der »Stoff« für seine Eintragungen offensichtlich zunehmend
banal erschien. Erst als Rolf als Folge der russischen Revolution die Kämpfe zwischen
den Weiß- und Rotgardisten zum Teil recht hautnah miterlebte, trat erneut Bewegung
in sein Leben, und er benützte sein Tagebuch wieder öfter. Allerdings dürfte diese Zeit
derart chaotisch verlaufen sein, dass Rolf teilweise erst Monate später und aus der Er-
innerung seine Einträge vornahm. Fallweise erscheinen die Notizen auch etwas konfus,
so etwa wenn Rolf zu einem Datum gleich zweimal seine Erlebnisse notiert. (Abb. 52)
Die Bedingungen in der russischen Gefangen-
schaft sind aufgrund einiger Berichte ehemaliger
Kriegsteilnehmer zumindest ansatzweise doku-
mentiert. Zum Teil wurden diese Texte noch wäh-
rend des Krieges als »Erlebnisberichte« publiziert,
zum Teil sind sie jedoch erst nach Kriegsende bzw.
erst Jahre nach der erfolgten Heimkehr aus der
Gefangenschaft erschienen. Häufig sind die Er-
lebnisse in der Gefangenschaft auch in Roman-
form abgefasst, wie etwa das 1918 erschienene
Werk: »Der Tscheinik« des bekannten Kunsthis-
torikers Julius Meier-Graefe. Ein starkes indivi-
duelles und zugleich kollektives Bedürfnis nach
Distanzierung dürfte bei dieser Art von Fiktiona-
lisierung eine große Rolle gespielt haben, wurde die Gefangenschaft bzw. Kriegsnieder-
lage doch allgemein als schwere Schmach empfunden, die es für viele Kriegsteilnehmer
52 Tagebuchseiten
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273