Seite - 182 - in Rolf Geyling (1884-1952) - Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Bild der Seite - 182 -
Text der Seite - 182 -
China 182
Situation sowohl in Wien als auch in Bukarest äußerst angespannt, sodass sich für einen
jungen Architekten kaum Entfaltungsmöglichkeiten bieten konnten. Ein wichtiges Argu-
ment war – insbesondere gegenüber seinem Schwiegervater –, dass er erwarte, seiner
Frau nunmehr in China ein komfortables und schönes Leben bieten zu können, nach-
dem sie während seiner durch Krieg und Gefangenschaft bedingten langen Abwesen-
heit zahlreiche Entbehrungen und Sorgen zu ertragen hatte.
Nachdem Hermine zur Einsicht kommen musste, dass Rolf von seinem Entschluss
nicht abzubringen war, stand sie wahrscheinlich vor der schwierigsten Entscheidung ih-
res Lebens. Denn einerseits liebte sie ihren Mann und wollte ihm natürlich – wo auch im-
mer – zur Seite stehen. Andererseits war ihr die Vorstellung, ihr vertrautes Umfeld und
insbesondere ihr Leben in der Geborgenheit der beiden Familien aufzugeben, gerade-
zu undenkbar. Auch ihre Eltern reagierten mit Bestürzung. Insbesondere Rolfs Schwie-
gervater und Schwager Ernst, mit denen er vor dem Krieg zusammenarbeitete, hatten all
die Jahre auf dessen Wiedereinstieg in die Baufirma in Bukarest gehofft, und zwar umso
mehr, als zwei der drei Schwager nicht mehr aus dem Krieg heimgekehrt waren. Auch
in Wien reagierte man mit Betroffenheit und Sorge auf Rolfs Pläne. Abgesehen von der
emotionalen Seite fürchtete die Mutter, auch die erhoffte finanzielle Unterstützung des
Sohnes zu verlieren. Wie schon erwähnt, war Rolfs Mutter schon längere Zeit Witwe, und
durch die Betrügereien des Kassiers der Pensionskasse stand sie ohne finanziellen Rück-
halt da. Allerdings fühlte sich der Sohn selbstredend auch in der Fremde für seine Mut-
ter verantwortlich, und trotz seiner anfänglich prekären finanziellen Lage unterstützte er
seine Mutter bis zu ihrem Lebensende mit regelmäßigen Geldüberweisungen und bot
zudem seiner Schwester Greta wiederholt seine finanzielle Hilfe an.
Dies ist ja eine Übergangszeit
In den Diskussionen, die sich um Hermines Entscheidung für die Reise drehten, ist Rolf
offenbar sehr geschickt vorgegangen. In seinem ersten diesbezüglichen Brief schrieb
er von einer Aufenthaltsdauer von einem bis zwei Jahren. Drei Monate später berichtet
Hermine, dass sie mit einem Zeitraum von zwei bis drei Jahren rechnen müsse. Sicher-
lich aufgrund der Firmenneugründung sprach Rolf sodann von drei Jahren. Doch wie
sich noch zeigen wird, sind schließlich 30 Jahre daraus geworden ! Die ursprünglich zu-
gesicherte begrenzte Aufenthaltsdauer war für Hermine allerdings ausschlaggebend, der
Reise nach China letztlich doch zuzustimmen. Wie sich in zahlreichen folgenden Briefen
zeigte, klammerte sich Hermine – von unendlichem Heimweh geplagt – jahrelang an
diesen Strohhalm. Gleich im ersten Brief, den sie am 20. Oktober 1921 ihrer Schwieger-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273