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30 Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848
2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen
Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten
seiner Nationen
Die Ära Josephs II. verlieh dem Landespatriotismus in allen Teilen der
Monarchie Auftrieb. Die Landespatrioten betrieben die »Emporbrin-
gung« ihrer jeweiligen mehrsprachigen historischen Königreiche und
Länder,21 dabei spielte der örtliche Adel eine Vorreiterrolle. So be-
herzigte der junge Adel Sonnenfels’ Appell, wandte sein patriotisches
Engagement aber gegen die maria-theresianische und josephinische
Entstaatlichung der Länder.22 Die Aristokratie weihte sich dem Dienst
an der Patria, worunter sie nun freilich mit postjosephinischem Ak-
zent ihr jeweiliges Kronland verstand, die alte geburtsadelige Vision
der natio wich dem Engagement für das Aufblühen des Vaterlandes
durch Gelehrsamkeit, Kunst und wirtschaftliche Prosperität.23 Häufig
hat man die franziszeische Zeit als eine durch Verschärfung der Zensur
und Revolutionsfurcht bedingte Epoche vordergründiger »Entpoliti-
sierung« beschrieben und diese Periode eindeutig vom bewegten Jahr-
zehnt der josephinischen Broschürenflut unterschieden. Wenn man
den Blick auf den Landespatrioten lenkt, wird aber klar, dass diese
scheinbare »Entpolitisierung« mit einer vehementen Politisierung der
Kultur einherging. Der Landespatriotismus stand im Zeichen dieser
Politisierung der Kultur, attraktiv wurde er als Option seit den 1790er
Jahren deshalb, weil er eine Alternative zur binären Opposition zwi-
21 František Kutnar, Předehra velkého leopoldovského sněmu r. 1790 [Vorspiel
des großen leopoldinischen Landtags vom Jahr 1790], in: ČČH 66 (1968),
669-686, 683-685; Zdeněk Šamberger, Český zemský patriotismus (Úvahy k
jeho úloze a
projevu v
prvé polovinì 19. století) [Der böhmische Landespatri-
otismus. Überlegungen zu seiner Rolle und seinen Äußerungen in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts], in: LA 21 /22 (1985 /1986), 71-112; Jaroslav
Mezník, Dejiny národu ceského v Morave. (Nárys vývoje národního vedomí
na Morave do poloviny 19. století) [Geschichte der tschechischen Nation in
Mähren. Abriss der Entwicklung des Nationalbewusstseins in Mähren bis
zur Mitte des 19. Jahrhunderts], in: ČČH 88 (1990), 43-62, 56-57.
22 Jiří Rak, Za vlast a národ proti světoborci [Für Vaterland und Nation gegen
den Weltzerstörer], in: Mezi časy … Kultura a umění v Českých zemích
kolem roku 1800, Praha 2000, 147-154.
23 Flora Kleinschnitzová, Josefa Dobrovského řeč »Über die Ergebenheit und
Anhänglichkeit der slawischen Völker an das Erzhaus Österreich« z r. 1791,
in: LF 45 (1918), 96-104.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513