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160 Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar
wirkte im Vormärz verzopft und lebensfern: Das ältere Verständnis
der Untertanenschaft als Kommunität der katholischen Gläubigen,
die von geduldeten Ketzern umgeben war, war obsolet geworden.
Stattdessen fanden sich die nebeneinander bestehenden Religionen im
Strafrecht mit einem neuartigen, legalozentrischen Modell überwölbt,
der Gemeinschaft der einem einheitlichen Gesetz unterworfenen
Normadressaten.120
4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen
Katholizismus
Die Restauration gewann ihr Prestige aus dem Anspruch, den Katho-
lizismus im Zeitalter der Revolution rekursiv zu erneuern. Der Rück-
griff auf die vorjosephinische Zeit ging dabei mit einer veränderten
kulturellen Selbstverortung einher: Waren die 1780er Jahre noch im
Zeichen der Symbiose von Aufklärung und Katholizismus gestan-
den, so begannen sich die Koordinaten im frühen 19. Jahrhundert zu
verschieben. Auf den Modernisierungsimperativ des josephinischen
Österreich sollte der restaurative Klerus im Zeitalter der Revolu-
tion mit einer Selbstprovinzialisierung, ja Selbstorientalisierung des
Katholizismus antworten, sie rückte die katholische Religion gradu-
ell in die Rolle eines Gegenpols zur Aufklärung.121 Im Zuge dieser
vermögenden Schichten, die es sich leisten konnten, ein »Privatleben« zu
führen, Joseph von Kudler, Erklärung des Strafgesetzes über schwere Poli-
zeiübertretungen, Bd. I, Wien 1841, 509 Anm.; Saurer, Zur Säkularisierung
des Sündenkonzepts, 215, weist darauf hin, dass laut Zirkular der Polizei-
oberdirektion vom 30. 5. 1821 »Concubinate unter den geringen Volksclasse«
von den Polizeibezirksdirektionen hintanzuhalten waren.
120 Tinková, »Das Recht, die Beleidigung Gottes zu rächen«. Zum restaurati-
ven Frankreich vgl. dies., Hřích, zločin, šílenství v čase odkouzlování světa
[Sünde, Verbrechen und Wahnsinn zur Zeit der Entzauberung der Welt],
Praha 2004, 221-225.
121 Jacob Frint warnt 1817 in der Gründungsschrift seiner Anstalt zur Priester-
ausbildung noch eindringlich: »Man wird […] die Aufklärung, für die Quelle
des Unglücks und des menschlichen Elends halten, man wird den Obscuran-
tismus wieder zurückwünschen, gegen den man so lange zu Felde gezogen
war, und in der Noth ganz darauf vergessen, daß die Finsterniß ebenso
wenig die wahre Quelle der menschlichen Wohlfahrt ist und seyn kann, als
die wahre Verstandesbildung Jammer und Elend erzeugt, und Glauben und
Tugend verbannt«, Jakob Frint, Darstellung der höheren Bildungsanstalt für
Weltpriester zum heiligen Augustin in Wien, nach ihrem Zwecke sowohl als
nach ihrer Verfassung. Ein Seitenstück zu der Abhandlung: Über die intel-
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513