Seite - 57 - in Aufklärung habsburgisch - Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
Bild der Seite - 57 -
Text der Seite - 57 -
571848
und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft
im Geiste« aufbauen konnten, ohne unfreiwillig jenes absolute mo-
narchische Regiment zu verherrlichen, das die anderen Völker unter
Habsburgs Zepter ablehnten.97 Damit eng verknüpft war die zweite
Frage, ob sich nämlich für die Österreicher Wiens und der Alpenlän-
der, diese Stiefkinder des größeren Deutschlands, ein genuiner Patrio-
tismus entwickeln ließ.98
6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft
Das liberale Ideal der Völkerfreundschaft vor 1848 baute auf einer
alle Nationen durchschneidenden, horizontalen Scheidelinie auf. Der
Verband freiheitsliebender Völker wandte sich gegen eine grenzüber-
greifende reaktionäre Clique von Vertretern des »Absolutismus«, die
aus Staatsmännern, Bürokraten, Klerikern und käuflichen Literaten
bestand. Die Verteidiger der absoluten Monarchie und des »Klerikalis-
97 Die Geschichte der slawisch-deutschösterreichischen liberalen Solidarität
bleibt zu schreiben, zum Wissensstand und zur Bewertung der tschechischen
»Wiedergeburt« bei der deutschsprachigen österreichischen Intelligenz vgl.
die profunde Arbeit des besten Kenners der Materie, Václav Petrbok, Die
Darstellung der tschechischen Nationalbewegung in der zeitgenössischen
deutschen und österreichischen Publizistik und Fachliteratur. Versuch einer
Charakterisierung, in: Brü 9 (2001), 41-59.
98 Vgl. ergänzend Kaufmanns Bemerkungen: »Die österreichisch erbländische
Poesie ist also durchaus kosmopolitisch? werdet Ihr fragen. Ja, wenn Farblo-
sigkeit, wenn Lauheit Kosmopolitismus sind. – Zu unsern Tagen schwinden
nach und nach der finstere Nationalhaß alter Zeiten; die Völker reichen sich
über Meere und Länder die brüderliche Hand, und es ist ein Triumph der
Zeit, daß sie dies früher, daß sie es aufrichtiger als ihre Herren thun. Mehr
aber wird der wahrhafte Kosmopolit nicht verlangen. Was ist der Einzelne
ohne persönliches Ehrgefühl, was wäre eine Nation ohne Nationalgefühl? –
Und der Schmerz der Heimathlosigkeit ist nicht immer ein großer, erheben-
der Schmerz; man mag es ertragen lernen, kein Vaterland mehr zu haben,
aber wehe dem, der nie eins gehabt hat, und wäre es auch nur ein Vaterland
im Geiste geworden!« Jakob Kaufmann, Die Literatur in Wien [1835], zit.
n.: Rietra (Hg.), Jung Österreich, 116. Vgl. weiters ebd., »Hat der junge Poet
weder den Muth, ein sogenannter Tollkopf, noch die Feigheit, ein höfischer
Schmeichler zu werden, dann bleibt seiner Dichtung kein Boden, als die
flache Allerweltsbildung, ein Boden, der gewiß keine Urwelt von Gedanken
trägt, höchstens ein duftloses Leinwandblümchen, den Hut seiner Geliebten
zu schmücken; dann reicht seine Weltanschauung von der Burg bis zum
Stephansturm, und er mag sich nur hinsetzen auf alle Kreuzwege, wie die
stereotypen, krüppelhaften, Wiener Leiermänner, mit einem athemlosen In-
strument, dessen Töne der Wind verweht, und um ein Almosen der frivolen
Menge […] buhlen.« Ebd., 117.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513