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248 Wissenskulturen des Vormärz
Diese Auseinandersetzung bereitete das Terrain für die Konstruktion
eines eigenständigen österreichischen Denkstils, dessen nüchterne und
realitätsgesättigte Erkenntnisform zum archetypischen Merkmal »ös-
terreichischer Philosophie« wurde.
Der positive Anti-Idealismus des Vormärz ließ jenen Liberalismus
entstehen, den er eigentlich im Keim ersticken sollte. Zugleich ist
bemerkenswert, dass das Autostereotyp eines anti-idealistischen ös-
terreichischen Weltbilds zu einem Selbstverständigungsmuster wurde,
das ganz verschiedene Gruppen und epistemische Konfigurationen
integrierte, weil es gleichsam apotropäischen Charakter hatte: Die
Funktion, die dieses antiidealistische Weltbild als Eigenständigkeitsbe-
weis gegenüber dem »größeren Deutschland« nach 1848 erfüllte, wird
im Folgenden abschließend erörtert.
6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre
Konstruktion der »österreichischen Philosophie«
Joseph Johann von Littrow wurde von seinen Weggefährten zum Ga-
ranten des österreichischen Sonderwegs der Philosophie aufgebaut.
Littrows Freund Ernst von Feuchtersleben rühmte ihm nach, er habe
die »Frühlingsluft« in die »Treibhausatmosphäre der Salons«162 ein-
gelassen. Gegen die spekulativen Luftschlösser der Romantiker und
Naturphilosophen werden Littrow »Ehrlichkeit und Liberalität der
Gesinnung, Gesundheit und Nüchternheit des Verstandes, Reinheit
des Geschmacks, Männlichkeit und Klarheit, sowie unverdorbene
reichischer Philosoph im Zeitalter Bacons, in: JbL 109 (1845) Abl. 20-35,
110 (1845) Abl., 33-46.
162 Ernst von Feuchtersleben, Littrow’s Vermischte Schriften, in: ders., Sämmt-
liche Werke, Bd. VI, 17-46, 18. Littrow sei geprägt gewesen von dem Geist,
»welcher die deutsche Literatur in ihrer schönsten Periode, im letzten Jahr-
zehnd des verflossenen Jahrhunderts« belebte. »Littrows Bildung fiel in
jene gelobte Zeit […] Ein Mathematiker, ein Realist, durch unvertilgbare
frühe Jugend-Eindrücke von Liebe und Achtung für die ewigen Vorbilder
des Schönen durchdrungen – welche erfreuliche Erscheinung!«, 19. Die
josephinische Ästhetik und Einschätzung der Philosophie machten Littrow
zum Mann von vorgestern für übermorgen: »Wenn z. B. Littrow gegen die
damalige deutsche Philosophie manchmal unbillig erscheint und mit dem
Bade das Kind ausschüttet, so bedenke man, daß der Erfolg das gerecht-
fertigt hat, und daß es seinem Verstande Ehre machte, schon damals heller
gesehen zu haben, als die vom Schwindel ergriffene Mehrzahl«, 21.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513