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137Restaurative
Geschichtspolitik und Sozialdiagnose
potismus.34 Die Konstellation, die Kratter beschreibt, sollte sich im
19. Jahrhundert wiederholen: Die österreichischen Liberalen arbeite-
ten sich an ihrem liebsten Reibebaum, der Kirche, ab, während sie
dazu neigten, den Staat zu verklären. Die Kirche selbst befand sich im
Vormärz in einer paradoxen Situation, die wiederum Hays Notizen
aus dem Jahr 1789 skizzieren. Sie wurde zum verlängerten Arm einer
Staatsgewalt, die im Namen des Kampfes gegen den Aberglauben die
Freiheit der Kirche beschnitt und dies im frühen 19. Jahrhundert im
Namen des Kampfes gegen Aufklärung und Revolution weiterhin
tat, zugleich aber die spätaufklärerischen Lehrpläne und Lehrbücher
an den Universitäten beibehielt. An diesen Staat blieb der Klerus im
Rahmen des Staatskirchentums gekettet, das Züge eines Stockholm-
Syndroms annahm. Um die trübe Gegenwart der Staatskirche zu
überspielen, hielt sich die restaurative Geistlichkeit an ein goldenes
Zeitalter, die beschönigte Wunschvergangenheit der maria-theresiani-
schen Epoche.
2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose
Das heißersehnte Einverständnis zwischen Kirche und Staat besie-
gelte man mit der Konstruktion einer gefühlvollen und wohltätigen
»Barockfrömmigkeit«35, die Joseph II. angeblich zerstört hatte. Un-
ter Kaiser Franz gehörte es für der Beamtenschaft zum guten Ton,
sich kirchentreu zu geben, aber diese staatspädagogische Frömmigkeit
war eine Spitze ohne Eisberg.36 Als man im Vormärz eine Verbindung
34 Es war, so könnte man Marx paraphrasieren, billig, auf Kosten der Kirche
liberal zu sein, vgl. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökono-
mie, Bd. I (Karl Marx, Friedrich Engels Werke, Bd. 23), Berlin 1975, 745,
Anm. 192.
35 Michel Vovelle, Piété baroque et déchristianisation en Provence au XVIIIe
siècle. Les attitudes devant la mort d’après les clauses des testaments, Paris
1973; Peter Hersche, Muße und Verschwendung, 36-80.
36 Spitzel verdienten sich ihr tägliches Brot mit einschlägigen Verdächtigungen.
1818 etwa gibt ein Polizeibericht über Metternichs vormaligen Privatsekretär
Joseph A. von Pilat, damals Herausgeber des Österreichischen Beobachters,
Auskunft: Er zeige »viele Ehrfurcht« gegenüber der Geistlichkeit, »ob es ihm
hiebei Ernst seye, kann man wohl nicht beurtheilen«, M. Baptista Schweitzer,
Kirchliche Romantik. Die Einwirkung des hl. Clemens Maria Hofbauer auf
das Geistesleben in Wien, in: HJ 48 (1928), 389-460, 447. Zur polizeilichen
Überwachung der katholischen Erneuerer um Hofbauer den Brief Pilats an
Gräfin Eleonore Fuchs, 18. 9. 1815: »P. Hofbauer hat gestern vom Erzbischof
ein Schreiben erhalten, worin ihm mit aller Höflichkeit bedeutet wird, vom
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513