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68 Das habsburgische Babylon
19. Jahrhunderts entstammte (vgl. Goebl 1997 : 108).39 Sowohl die Befragten
als auch die zuständigen Statistiker verstanden darunter jedoch sehr wohl die
die eigene Ethnizität dominant bestimmende Sprache – war doch festgelegt,
dass nur eine Umgangssprache angegeben werden konnte40 –, sodass aus den
erhobenen Daten problemlos auf die ethnische Verteilung der Bevölkerung in
der cisleithanischen Hälfte der Doppelmonarchie geschlossen werden konnte.
Immerhin waren die Umgangssprachenerhebungen von 1880 bis 1910 mit
dem Ziel eingerichtet worden, ein für staatliche Belange annähernd verläss
liches Bild der nationalen Verteilung der Bevölkerung entwerfen zu können ;
außerdem korrespondierte die »faktische Identifizierung von Sprachen und
Nationalitätenfrage […] mit der im Bewußtsein eines Teils der Bevölkerung
vollzogenen Gleichsetzung von Umgangssprache und Nationalitätszugehörig
keit« (Brix 1982 : 14f.).41 Die etwa von der christlich sozialen Stadtvertretung
Wiens angedrohten Sanktionen gegen jene tschechischen BürgerInnen, die
bei der Volkszählung von 1910 Tschechisch und nicht Deutsch als Umgangs
sprache angaben, sprechen in diesem Sinne eine deutliche Sprache (vgl. John/
Lichtblau 1993 : 278).
Hier kommt das Konzept von der »Erfindung der Nation« deutlich zum Tra
gen : Es stellt sich die Frage, wie viele der habsburgischen EinwohnerInnen,
die ihre »Umgangssprache« angeben mussten, sich letztendlich tatsächlich un
ter dieser Kategorie wieder erkannten, zielten doch solche Umfragen auf Ein
deutigkeiten ab, die nur in wenigen Fällen einer Realität entsprechen konnten.
Anderson konstatiert, von daher rühre auch die Intoleranz von Zensusbehörden
»gegenüber multiplen, politisch ›transvestitenhaften‹, verschwommenen oder
wechselnden Identifikaitonen« und entlarvt damit die Fiktion eines jeden Zen
sus, der »darin besteht, daß jedermann erfaßt ist, und daß jeder einen – und nur
einen – eindeutigen Platz einnimmt. Kein Raum für Unklarheiten« (Anderson
39 Der Internationale Statistische Kongress von 1873 hatte sich dafür ausgesprochen, die Frage nach
der »gesprochenen Sprache« in alle Volkszählungen aufzunehmen ; was damit im Detail zahlen
mäßig erfasst werden sollte, war in den Diskussionen der Volkszähler zwar die Schlüsselfrage,
blieb aber weitgehend ungeklärt und stellte die Tatsache in den Vordergrund, dass die Angabe der
(Umgangs )Sprache in den Erhebungsbögen eine politische Vorentscheidung voraussetzte (vgl.
Hobsbawm 1996 : 116f.).
40 Heidemarie Uhl weist im Kontext der Volkszählung von 1910 auf die These hin, dass »die Monar
chie an einem Formular zerbrochen ist, nämlich an der Volkszählung« (Uhl 2010 : 14).
41 Wie jedoch aus verschiedenen Richtersprüchen der Höchstrichter hervorgeht, ging die Rechtspra
xis ausdrücklich nicht von einer Identität zwischen Sprachgebrauch und Nationalitätszugehörig
keit aus (vgl. Stachel 2001 : 21).
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Subtitle
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Author
- Michaela Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 442
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437