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Zählt der Staat Häupter oder Zungen ? 71
Die Spalte ist nur für die Angehörigen des im Reichsrate vertretenen Ländergebietes
auszufüllen. Für jede solche Person ist die Sprache, deren sich dieselbe im gewöhn
lichen Umgange bedient, jedenfalls aber nur eine der nachbenannten Sprachen
anzugeben, und zwar : […]. (Österreichische Statistik 1912 : 13*, Hervorh. i. O.)44
Realiter gehörte jedoch in weiten Teilen der Monarchie die Mehrsprachig
keit zum Alltag, sie war »tatsächlich ausgeübte soziokulturelle Praxis« (Stachel
2001 : 20, Hervorh. i. O.).45 Der Begriff der Mehrsprachigkeit wird damals wie
heute in äußerst ambivalenter Weise verwendet, bezeichnet er doch zum ei
nen eine angestrebte, zum Teil prestigehafte Mehrsprachigkeit, die sich durch
das – zusätzliche – Erlernen einer zweiten Sprache ergibt, und zum anderen
eine auf staatsrechtlichen Grundlagen beruhende Mehrsprachigkeit wie etwa
in der Kombination Minderheitensprache und Nationalsprache (vgl. dazu auch
Burger 1997 : 35). Die vielfältigen Ausprägungen von Mehrsprachigkeit, wie
sie von Mario Wandruszka in zum Teil idealistischer Weise aufgezeigt wurden
(Wandruszka 1981), können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Mehrspra
chigkeit vielfach mit Macht und Prestigefragen in Verbindung zu bringen ist :
Was zumeist zählt, ist der soziale Aufstieg. Statistisch ist das Phänomen der
Mehrsprachigkeit freilich nicht fassbar, da sie in überaus heterogenen und teil
weise einander überschneidenden Kontexten auftrat – es sei nur an die Existenz
mehrsprachiger Gebiete innerhalb der Habsburgermonarchie oder an die aus
Migrationsprozessen resultierenden mehrsprachigen Situationen vor allem in
größeren urbanen Räumen gedacht. Die Funktionsunterschiede in der Verwen
dung der verschiedenen Sprachen lassen eine Hierarchisierung erkennen, die die
Herrschaftsverhältnisse in den einzelnen gesellschaftlichen Domänen wider
spiegeln und die Frage nach der sozialen Geltung der jeweiligen Sprache in ihrer
jeweiligen Anwendungssituation aufwerfen. Wird davon ausgegangen, dass die
Sprachenwahl der SprecherInnen – so eine solche überhaupt möglich ist – »auf
grund gesellschaftlicher Interaktion [erfolgt] und […] durch den ›Marktwert‹
der Varietäten bestimmt [wird]« (Helfrich/Riehl 1994 : 1), so kann die Analyse
dieser sozialen Interaktionen die Machtverhältnisse freilegen, die das Makrosys
44 Veiter gibt eine aufschlussreiche Übersicht zur Formulierung der Befragung nach der jeweiligen
Sprache bei Volkszählungen zwischen 1869 und 1961 (Veiter 1970 : 647).
45 Diesbezügliche Beispiele sind aus allen Lebensbereichen dokumentiert, vgl. etwa die Rekrutenver
eidigung wenige Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in einer Wiener Kaserne, die in zehn
Sprachen unter Mitwirkung der Militärgeistlichen von sieben Religionsgemeinschaften erfolgt
war (Wandruszka 1985 : XI).
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Subtitle
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Author
- Michaela Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 442
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437