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88 Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie
terscheidet zwischen symmetrischer Zweisprachigkeit, die eine ausgeglichene
Kom petenz in zwei Sprachen in Wort und Schrift voraussetzt – ein in der
Realität kaum vorstellbares Phänomen –, und der asymmetrischen Zweisprachig-
keit, die ungleich häufiger auftritt und in der eine Sprache in Bezug auf alle
sprachlichen Fähigkeiten (Verstehen, Sprechen, Lesen, Schreiben) weniger gut
beherrscht wird als eine andere. Auch die Unterscheidung zwischen instrumen-
teller (oder funktionaler) und integrativer Zweisprachigkeit erscheint relevant :
Erstere dient hauptsächlich der Erweiterung der eigenen Kommunikations
und Ausdrucksmöglichkeiten, Letztere hingegen sollte dazu beitragen, den
Sprecher oder die Sprecherin besser in eine (neue) Gesellschaft oder Gesell
schaftsgruppe zu integrieren. Für die Durchleuchtung bilingualer Praxis ist eine
weitere Distinktion von Bedeutung, nämlich diejenige zwischen ungesteuertem
und gesteuertem Zweitspracherwerb. Dabei geht es vorrangig um das Erlernen
einer Zweitsprache durch kommunikatorische Praxis bzw. durch eine Bildungs
institution. Von Mehrsprachigkeit ist dagegen die Rede, wenn mehr als zwei
Sprachen in einer Gesellschaft in Kontakt stehen, wobei die Unterschiede zu
bilingualen Situationen grundsätzlich gering bis nicht existent sind. Allerdings
ist bei Plurilingualität davon auszugehen, dass die hierarchischen Beziehungen
zwischen den involvierten Sprachen komplexer werden (vgl. Kremnitz 1994 :
24f. und 38). Krefeld unterscheidet zwischen »Diglossie« und »Dilalie« : Di
glossie folgt gewissen Reglements und unterscheidet zwischen Sprachen oder
Sprachvarianten, die in sogenannten »höheren Domänen« verwendet werden,
also etwa in Schulen, im Heer oder in der Verwaltung ; Dilalie rekurriert auf
die eher »niedere Domäne« der Mündlichkeit in vertrautem Umfeld, wo keine
institutionellen Festschreibungen feststellbar sind (Krefeld 2004 : 34 ; vgl. auch
Ille/Rindler Schjerve/Vetter 2009 : 94). Auf den vorliegenden Kontext bezogen
wäre Diglossie als Grundlage für das in der Folge auszuführende »institutionelle
Übersetzen« zu sehen, während Dilalie eher als Ausgangspunkt für das »habitu
alisierte Übersetzen« betrachtet werden kann.
Auf die bi bzw. multilinguale Kommunikation in der Habsburgermonarchie
bezogen heißt das, dass sich zahlreiche Menschen in vielen Teilen der Monarchie,
vor allem jedoch in den städtischen Ballungszentren, zum Zweck der täglichen
Verständigung oftmals zweier (oder mehrerer) unterschiedlicher Sprachen be
dienten – was freilich nicht heißt, dass weite Teile der Monarchie nicht gänzlich
unbetroffen von zwei oder gar mehrsprachiger Praxis gewesen wären. Die zweite
(oder dritte) Sprache wurde zumeist in ungesteuerter Weise erworben, das heißt, die
– zumeist – ArbeitsmigrantInnen lernten diese Sprache(n) vorrangig durch die
kommunikative Praxis und dadurch in vielen Fällen »zwangsweise« – sie hatten
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Subtitle
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Author
- Michaela Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 442
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437