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»Polykulturelle Kommunikation« 105
setzte schon bald nach Inkrafttreten des Gesetzes ein Tauziehen um die Er
richtung von Schulen für nationale Minderheiten ein, sahen sich doch die na
tionalen Mehrheiten in vielen Gemeinden nicht nur finanziellen Belastungen
durch die Errichtung neuer Schulen ausgesetzt, sondern vor allem die eigene
Mehrheit durch die Zulassung einer Schule für die nationale Minderheit ge
schwächt.
Für den vorliegenden Kontext besonders relevant erscheint die Einrich
tung der sogenannten »utraquistischen Schule«, ein mehrsprachiger Schultyp,
in dem in mindestens zwei Unterrichtssprachen gelehrt wurde.93 Dieser lang
geübte Gebrauch wurde im Zuge der Durchsetzung von Artikel 19 und sei
nem Grundrecht auf »Wahrung und Pflege von Nationalität und Sprache« lang
sam zurückgedrängt ; so betrug der Anteil der Volks und Bürgerschulen mit
zwei oder mehr Unterrichtssprachen (bis zu vier waren erlaubt) im Schuljahr
1870/71 noch 9 %, während er im Jahr 1912/13 auf 1,1 % zurückgefallen war
(Burger 1997 : 42). Der »Utraquismus« bezog sich also nicht speziell auf den
Sprachunterricht als Unterrichtsgegenstand, sondern auf die Unterrichtssprache
für alle Gegenstände, wodurch der kontinuierliche Codewechsel zwischen den
einzelnen Sprachen zum (Schul )Alltagsgeschehen der LehrerInnen und Schü
lerInnen wurde. Die im Zuge der Durchführung von Artikel 19 stets abneh
mende Zahl an »utraquistischen Schulen« und der damit verminderte Gebrauch
des »Codeswitching« kann demnach mit dem allgemeinen Rückgang an Zwei
und Mehrsprachigkeit in weiten Teilen der Monarchie in direkte Beziehung
gebracht werden.
An der Schulpolitik der Habsburgermonarchie ist erkennbar, dass von der
Gesetzgebung bestimmte Rahmenbedingungen für lebensweltliche Befind
lichkeiten und ihre kulturellen Kodierungen in hohem Maße verantwortlich
zeichnen. Das Kontinuum zwischen Homogenität bzw. Heterogenität bean
spruchenden Kräften läuft direkt über bi und plurilingual ausgerichtete Ver
ständigungspotenziale und ist von vielfachen Fragmentierungen durchbrochen.
Die Ausprägungen des Denkens in Übersetzung sind so gesehen gelenkt von
Mechanismen ethnischer Differenzierung, die – im vorliegenden Kontext der
Schule – im Allgemeinen durch die Schulgesetzgebung und im Besonderen
durch das »Sprachenzwangsverbot« pluralistischen Spannungsverhältnissen
entgegenwirkten. Auf Plurilingualität und damit auf kulturellen Transfer auf
bauende Identitätskonstellationen wurden zugunsten – vorgeblich – eindeutiger
nationaler Zuschreibungen erheblich eingeschränkt. Dass in diese Entwicklun
93 Vgl. zum »utraquistischen Schultyp« auch Hugelmann (1934 : 504f.).
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Subtitle
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Author
- Michaela Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 442
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437