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116 Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie
tisch als Italienisch gesprochen wurde, sind die erbosten Worte der Mutter über
das flegelhafte Verhalten des ca. zwölfjährigen Sohnes : »Sinko moj ti ćeš bit ili
velik javo ili veliki čovijek« (ibid.: 14).111 Nicht zuletzt aufgrund seiner Flegel
haftigkeit wird Antonio ein Jahr später in ein Internat nach Loreto geschickt,
wo er, wie er angibt, bittere Tränen weint, da ihn die Schulkollegen wegen seiner
mangelhaften Italienischkenntnisse zum Zentrum ihres Gespötts machen. Die
Revolution von 1848 zwingt den Sechzehnjährigen, Loreto zu verlassen und auf
abenteuerlichen Wegen nach Dubrovnik zurückzukehren, wo er die Schule in
einem Gymnasium mit Unterrichtssprache Italienisch beendet und Privatunter
richt in Französisch und Deutsch nimmt ; schließlich übersetzt er einen kleinen
Roman Antonio ou l’orfeline de Florence ins Italienische und druckt ihn sogleich
in der Druckerei seines Vaters.
Nach der Matura studiert Antonio in Wien und Graz Rechtswissenschaften ;
seine Deutschkenntnisse müssen also zu diesem Zeitpunkt sehr gut gewesen
sein, was nicht zuletzt durch die kurze Studiendauer von vier Jahren bezeugt
wird. Aus seinen Aufzeichnungen geht hervor, dass er in beiden Städten sowohl
mit deutschsprachigen als auch italienischen und serbisch bzw. kroatischspre
chenden Freunden verkehrt. Nach Studienabschluss absolviert er 1856 in Zadar
die Gerichtsprüfung in italienischer Sprache112 und bekommt dadurch die hö
heren Weihen als österreichischer Beamter. Wenige Jahre später berichtet An
tonio von steigenden Spannungen in der Sprachenfrage. Als dienstbeflissener
und offensichtlich nicht von nationalistischen Gefühlen gelenkter Beamter – es
stellt sich die Frage, für welche Nationalität er hätte Partei ergreifen sollen, war
111 »Mein Sohn, du wirst entweder ein großer Teufel oder ein großer Mann werden«. Etwa 1872,
als Antonio bereits ca. 40 Jahre ist, erhält er einen Brief von seiner Mutter, in dem diese ihm
auf Serbokroatisch Trost für seine schwere Erkrankung spendet ; der Brief wird in der Studie
Abgrund – Brückenschlag. Oberschicht und Bauernvolk in der Region Dubrovnik im 19. Jahrhun-
dert (Trančik 2002 : 33f.) als beispielhaft für eine von Italianismen durchzogene serbokroatische
Schreibweise zitiert (etwa : piše = er schreibt, wird in dem Brief mit »pisce« wiedergegeben). Der
Brief an Antonio dürfte anläßlich eines in Folge des plötzlichen Todes seiner ersten Frau, Maria
Cingria, erlittenen Nervenzusammenbruches entstanden sein ; aus der Ehe waren fünf Kinder
hervorgegangen, die alle zu diesem Zeitpunkt noch sehr klein waren (Martecchini 1906 : 62f.).
112 Im Erlass des Justizministeriums vom 29. Juli 1864 wird unter Verweis auf weiter zurückliegende
Erlässe aus dem Jahr 1854 darauf hingewiesen, dass Richter und Advokatenprüfungen auf Ver
langen der betreffenden Kandidaten »zum Theile in der Landessprache vorzunehmen […] sind«
(Fischel 1910 : 154). Aus Martecchinis Aufzeichnungen geht jedoch hervor, dass diese Prüfungen
grundsätzlich auf Italienisch abgehalten wurden : »Siccome allora si facevano a Zara da Apposite
Commissioni gli esami di Stato in lingua italiana, così dopo di essermi preparato per alcuni mesi,
mi vi assoggettai, subendoli distintamente« (Martecchini 1906 : 43).
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Subtitle
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Author
- Michaela Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 442
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437