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140 Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie
Ein Prager Adressbuch aus dem Jahr 1884 führt ebenso »beeidete Transla
toren« (Přísežní tlumočníci) an, und zwar 16 Namen für insgesamt zwölf Spra
chen (Lešer 1884 : III, 91). Für das Jahr 1914 führt ein anderes Prager Adress
buch unter der Rubrik »gerichtlich beeidete Sachverständige des Handels und
Landesgericht[s]« für 18 Sprachen (darunter auch »Taubstumme«) insgesamt 46
beeidete Dolmetscher unter Angabe des Namens, der Adresse und des Berufs
an, unter denen hauptsächlich, wie auch in Wien, Notare, Rechtsanwälte und
Gymnasiallehrer vertreten sind (Singer 1914 : 83f.). Für Ljubljana werden etwa
im Jahr 1904 drei beeidete Dolmetscher (Französisch, Italienisch und Serbokro
atisch) angegeben (Fischers Allgemeiner Wohnungsanzeiger 1904 : 31).
Die Übersetzungspraxis bei Gericht
Hinsichtlich der Ausfertigung beglaubigter Übersetzungen bei Gericht be
stimmte ein Gesetz vom 9. August 1854 über »das gerichtliche Verfahren in
Rechtsangelegenheiten außer Streitsachen«, dass »schriftliche Gesuche […] in
einer der bei Gericht üblichen Sprachen geschrieben [sein müssen]. […] Von
den nicht in einer dieser Sprachen verfaßten Beilagen müssen beglaubigte Ue
bersetzungen beigefügt werden« (RGBl. 208/1854).
Der Einsatz von Dolmetschern bei Gerichtsverhandlungen, in die mehrere Na
tionalitäten der Monarchie verwickelt waren, stellte jedoch trotz aller gesetzlicher
Bestimmungen keine Selbstverständlichkeit dar, wie ein Beispiel aus dem schlesi
schen Troppau belegt, in dem böhmische Geschworene, die der deutschen Sprache
nicht mächtig waren, ihren Urteilsspruch auf einer »unverlässlichen«, vom Gericht
selbst angefertigten Übersetzung eines für die Verhandlung relevanten Artikels
stützten, und trotz »ausdrückliche[n] Befragen[s] des Vorsitzenden es nicht be
gehrten«, eine durch einen beeideten Dolmetscher angefertigte Übersetzung als
Grundlage für ihre Entscheidung zu erhalten (Entscheidung 1885 : 13).
Hinsichtlich beglaubigter Übersetzungen sah das »Gesetz vom 25. Juli 1871,
betreffend die Einführung einer neuen Notariatsordnung« (RGBl. 32/1871) vor,
dass Notare für jene Sprachen, für die sie als Dolmetscher bestellt waren, auch
die Richtigkeit der von ihnen selbst übersetzten Schriftstücke oder von ihm
geprüften Übersetzungen notariell beurkundeten. Außerhalb des Wirkungsbe
reichs von Notaren hingegen kam es oft zu Ungereimtheiten. So war das Mi
nisterium des Innern 1903 mit einem Fall befasst, in dem der Apotheker Anton
Marcelja gegen das Istrianer Apothekergremium in Parenzo/Poreč Beschwerde
geführt hatte, weil er von diesem beschuldigt worden war, es verabsäumt zu
haben, vier Dokumente in kroatischer Sprache »mit authentische[n], von einem
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Subtitle
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Author
- Michaela Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 442
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437