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166 Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie
Ausmaßes. Die Aufgaben der Ziffernkanzlei bestanden in der »Manipulation«
der aufgefangenen Briefe, der Entzifferung fremder Geheimschriften und dem
Aufbau neuer Postlogen außerhalb von Wien. Besondere Sorgfalt wurde der
vierzehntägig einlangenden Post aus dem Osmanischen Reich zugewandt, für
die eigene Übersetzer zur Verfügung standen. Die Bedeutung, die dieser letzt
genannten Post beigemessen wurde, stand in Widerspruch zur Bezahlung : Je
der aufgelöste Ziffern Schlüssel wurde dem erfolgreichen Dechiffreur gesondert
bezahlt ; diese Ziffer Remuneration wurde ausdrücklich als Möglichkeit der
Gehaltsergänzung interpretiert. Die Auflösung eines russischen, spanischen,
portugiesischen, englischen oder schwedischen Schlüssels brachte die höchste
Remuneration, die Dechiffrierung eines osmanischen jedoch die niedrigsten. Die
Beamten logierten mit ihren Familien in sogenannten »Naturalwohnungen« in
der Hofstallburg,155 wodurch zum einen die auch nächtliche Verfügbarkeit des
Personals für dringende Aufträge gewährleistet war, zum anderen wurde dadurch
die für diese Tätigkeit absolut erforderliche Verschwiegenheit gefördert. Des
Weiteren wurden zur besseren Wahrung der Berufsgeheimnisse vorrangig Ver
wandte von bereits in Verwendung stehenden Beamten aufgenommen, wodurch
sich oft ganze »Dynastien« von Ziffernbeamten bildeten und das »Amtsgeheim
nis« in ein »Familiengeheimnis« umfunktioniert wurde. An die Beamten wurden
sehr hohe Anforderungen gestellt, die sich vor allem auf ihre Sprachkenntnisse
bezogen. Bei deren Beurteilung wurden offensichtlich eher quantitative als quali
tative Kriterien ins Treffen geführt, was an der für jede neu erlernte Sprache extra
ausbezahlten Gratifikation von 500 Gulden erkennbar ist. Die im Verhältnis zu
anderen Beamten hohe Bezahlung und die zahlreichen Vergünstigungen für die
Angestellten der Ziffernkanzlei sollten eine gewisse Kompensation für die ge
sundheitsschädigende Arbeit darstellen : Mehr als die Hälfte aller Dechiffreure
waren vor erreichter Pensionierung halb blind (Hubatschke 1975b : 377ff.).
Am 4. April 1848 wurde die Ziffernkanzlei als Folge der Märzrevolution156
aufgelöst, doch bereits ein Jahr später fanden sich die meisten Beamten in der
neu gegründeten »Sektion für Chiffrewesen und translatorische Arbeiten« wie
der, die in das Ministerium des Äußern nicht voll integriert war, sondern ihm
in gleicher Weise wie etwa das Haus , Hof und Staatsarchiv oder das Zahl
155 1719 von Fischer von Erlach Vater und Sohn erbaut (heute : Museumsquartier).
156 Im Zuge der Auflehnung gegen das unterdrückerische System von Fürst Metternich kam es am
13. März 1848 in Wien zu Aufständen vonseiten zahlreicher Studenten der Wiener Universität,
die im späteren Verlauf durch Arbeiter unterstützt wurden. Die Folge der Aufstände waren zahl
reiche Tote ; Metternich musste zurücktreten.
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Subtitle
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Author
- Michaela Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 442
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437