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| 1 Auto/Biographieforschung –
KünstlerInnenforschung66
1.3.2 Brief
„Tatsache ist, daß ich im allgemeinen nicht besonders gerne Briefe schreibe.“ 100
In einem Brief der Künstlerin Erika Giovanna Klien an ihren Sohn Walter teilte
sie diesem mit, dass sie nicht gerne Briefe schreibe. Angesichts dessen, dass Kli-
ens Leben aus heutiger Perspektive fast ausschließlich anhand ihres hinterlassenen
Briefbestands (re-)konstruiert wird, mag diese Aussage zunächst überraschen und
auch zum Überdenken der Quellensituation anregen. Überraschend ist Kliens Aus-
sage auch deswegen, weil der umfangreiche Briefbestand, der von der Künstlerin
vorliegt, nicht den Eindruck einer ungern schreibenden Korrespondentin erweckt.
Klien schrieb lange, ausführliche, witzige, sorgenvolle, reflektierte und literarisch
hochwertige Briefe, nicht selten waren diese auch mit Zeichnungen versehen. Wie
ist also die obige Aussage einzuordnen? Mehrere Interpretationsmöglichkeiten sind
denkbar, von der schlichten Bescheidenheitsformel bis zu einer hintergründigen Be-
ziehungsanalyse. Vielleicht wollte Klien die Bedeutung oder Qualität ihrer Briefe re-
lativieren, vielleicht entspricht die Aussage der Stimmung einer Lebensphase. Wenn
sie auch die Formulierung „im allgemeinen“ verwendete, kann es doch sein, dass
sie nach vielen Jahren, in denen sie durch ihre Exilierung zum vielfachen Briefe-
schreiben gezwungen war, dessen müde geworden war. Die Aussage könnte aber
auch einem Bedauern Ausdruck geben, das sich auf die konkrete Situation mit dem
Adressaten genau dieses Briefwechsels bezieht: Klien konnte ihren in Europa leben-
den Sohn niemals sehen, nie treffen, nur Briefe gingen zwischen den beiden hin
und her. Eine Frustration angesichts der Alternativlosigkeit zum Brief als Kommu-
nikationsform ist in dieser Situation mehr als plausibel. Oder aber, last but not least:
Klien schrieb wirklich nicht gerne Briefe, und die vielen Briefe, die sie verfasste,
waren tatsächlich nur der Notwendigkeit der Situation geschuldet, da es nach ihrer
Übersiedlung in die USA keine andere Möglichkeit gab, mit Freunden und Familie
Kontakt zu halten.
Letzterer Punkt stünde durchaus in Übereinstimmung zur vorhandenen Litera-
tur zum Brief als Quelle. So führt Fritz Fellner in seiner Auseinandersetzung mit
dem Brief als historische Quelle den Wunsch nach Aufrechterhaltung persönlicher
Beziehungen bei räumlicher Distanz als grundlegenden Anlass privater Korrespon-
denzen an.101 Gezeigt werden kann, dass das Anwachsen von Briefkorrespondenz
100 Sammlung Mautner Markhof, EGK an Walter Klien, 21.8.1949 (Kopie).
101 Fritz Fellner, Der Brief. Kritische Überlegungen zu seiner Auswertung als historische Quelle, in:
Österreichisches Staatsarchiv (Hg.), Beruf(ung) Archivar. Festschrift für Lorenz Mikoletzky, Wien,
Innsbruck 2011, 315.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463