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4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 | 315
4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler –
Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945
„Die Luft ist auch so mit Politik erfüllt – ein Bazillus, der unbedingt kunstfremd ist.“ 6
Alfred Kubin ließ kaum eine Gelegenheit vergehen, um seine Verachtung vor dem,
was er unter dem Begriff „politisch“ verstand, kundzutun und darauf hinzuweisen,
wie völlig inkompatibel einander Politik und Künstlertum gegenüberstünden. 1933
äußerte er sein Unverständnis, als sein oberösterreichischer Künstlerkollege Ernst
August (von) Mandelsloh wegen „Abreißens eines Regierungsplakats“ inhaftiert
wurde. Den Hintergrund – Mandelsloh war illegaler Nationalsozialist – führte er
nicht näher aus, politische Agitation eines Künstlers sei einfach immer falsch:
„Dafür floriert diese Volksverführerin Politik. – Gestern besuchte mich Rössing7 aus
Gmunden und erzählte, daß man Mandelsloh8 (sogar mit seiner Frau) etliche Tage ein-
gelocht habe, weil er ein Regierungsplakat von der Wand gerissen habe! Ja, warum tut er
dies? Es ist immer ein Unglück, wenn ein Künstler – oder einer, der es sein will – sich in
politische Dinge mischt. (Siehe Courbet!)“9
Gustave Courbet, den Kubin hier abschreckend als „Negativbeispiel“ eines poli-
tisch aktiven Künstlers anführte, hatte im Jahr 1855 ein „Manifest des Realismus“
verfasst, in dem er entgegen den Vorstellungen der Romantik die Wirklichkeit als
einzigen Gegenstand der Kunst postulierte. Diese müsse in ihrer Alltäglichkeit und
auch in ihrer Hässlichkeit dargestellt werden, das künstlerische Schaffen müsse zu-
dem „durch die Gegenwart motiviert sein und auf diese zurückwirken“.10 In Über-
einstimmung mit der politischen Bewegung der französischen FrühsozialistInnen
rund um Claude-Henri de Saint-Simon sprach Courbet dem Künstler eine Vorrei-
terrolle in jeglichem gesellschaftlichen Reformprozess zu. Folgerichtig übernahm
6 AK an Anton Steinhart, o. D. [Frühjahr 1933], zit. nach Hans Kutschera (Hg.), Ringen mit dem
Engel. Künstlerbriefe 1933–1955. Alfred Kubin, Anton Kolig und Carl Moll an Anton Steinhart,
Stuttgart 1964, 22.
7 Karl Rössing (1897–1987), österr. Graphiker.
8 Ernst August (von) Mandelsloh, österr. Maler und Graphiker. Zu dessen politischer Biographie vgl.
Birgit Kirchmayr, Ernst August (von) Mandelsloh. Landesleiter der Reichskammer der bildenden
Künste, abrufbar in der Biographischen Datenbank des OÖLA unter https://e-gov.ooe.gv.at/bgd-
files/p4716/Mandelsloh_von_Ernst_August.pdf (2.9.2019).
9 AK an Anton Steinhart, 8.9.1933, zit. nach Kutschera (Hg.), Ringen mit dem Engel, 25.
10 Verena Krieger, Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunst-
geschichte des Schöpferischen, Köln 2007, 65.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463