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1.1 Auto/Biographieforschung | 47
ihr gesellschaftliches Zusammenleben organisieren und regulieren, und drittens
jene nach der Geschichtlichkeit der menschlichen Natur.“43 Von Marc Bloch, der
gemeinsam mit anderen Vertretern der französischen Annales nicht zuletzt auch
wesentliche Anstöße für die Historische Anthropologie geliefert hatte, stammt das
vielzitierte Wort vom „Historiker als Menschenfresser“:
„Hinter den Landschaftsbildern, den Werkzeugen und Maschinen, hinter den trockensten
Büchern und hinter scheinbar total verselbständigten Institutionen sucht die Geschichte
stets die Menschen zu erfassen. Wem das nicht gelingt, ist bestenfalls ein Handlanger
der Wissenschaft. Der gute Historiker gleicht dem Menschenfresser der Legende. Wo er
menschliches Fleisch wittert, weiß er seine Beute nicht weit.“44
Trifft dies nicht auf den historischen Biographen/die historische Biographin am al-
lermeisten zu?
Die Biographie war in der Geschichtswissenschaft somit niemals „out“, in ihrer
Doppelfunktion als historische Quelle wie auch als Produkt historischer Forschung
aber wandelnden Bedeutungszuschreibungen unterworfen. Die in verschiedenen
Phasen auftretende Kritik an einer zu starken oder eindimensionalen Fokussierung
brachte zentrale methodische Impulse, die letztlich dazu führten, dass die Auto/
Biographieforschung nunmehr auch in den Geschichtswissenschaften auf einem
methodisch-theoretisch gefestigtem Fundament basieren kann, das ihr die Sozial-
wissenschaften schon früher gegeben hatten.
1.1.3 Auto/Biographie und Geschlecht
Mit der lange unhinterfragten Fokussierung der Biographik auf die Geschichten
der „großen Männer“ blieben Frauen als biographische Protagonistinnen weitge-
hend unbeachtet, oder wie es Susan Mann Trofimenkoff beschrieb: „An occasi-
onal queen, saint or female ‚first‘ might be allowed to slip through the net of ex-
clusivity but their presence among the Great Men merely accentuates their own
marginality“.45 Solange Biographien ausschließlich das Leben herausragender Per-
sönlichkeiten darstellten und Autobiographien sich als „Sammlung der Bekennt-
43 Jakob Tanner, Historische Anthropologie zur Einführung, Hamburg 2004, 21. Zum Zusammen-
hang von Anthropologie und Biographik vgl. auch Zimmermann, Biographische Anthropologie.
44 Marc Bloch, Apologie der Geschichte oder der Beruf des Historikers, München 1985, 25.
45 Susan Mann Trofimenkoff, Feminist Biography, in: Atlantis. A Women’s Studies Journal 10 (1985),
H. 2, 1–9, 2, zit. nach Esther Marian/Caitríona Ní Dhúill, Biographie und Geschlecht. Einleitung,
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463