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4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ | 373
„[…] denn es gibt kein Naturgesetz, das die schöpferische und praktische Tätigkeit trennt;
beide sind typisch menschliche Tätigkeiten, beide sind notwendig, zum Leben und zur
Balance zwischen ‚schaffen‘ und ‚erschaffen‘. Der praktische Mensch sollte nicht gedan-
kenlos und ohne alle schöpferische Tätigkeit dahin leben und der schöpferische Mensch
sollte sich nicht vom praktischen Leben flüchten und isolieren; […] die sogenannte ‚aris-
tokratische Idee‘, die darin besteht, daß die große Masse der Leute die mechanischen prak-
tischen Arbeiten tut, damit eine kleine, ausgewählte Gruppe von Leuten sich ungestört
mit höheren Dingen beschäftigen kann, lebte seit Jahrhunderten in Europa und beeinflußt
auch noch die heutige Erziehung u. die Ideen der europäischen Gesellschaft. Das ist natür-
lich ganz undemokratisch.“195
4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei
Oskar Kokoschka und Alfred Kubin
„Wien ist eine Strafe, und ich habe nie so gelitten wie im letzten Jahr.
Alles hat zusammen geholfen, um mir jetzt die Energie zu geben, mich endlich aus dieser
kleinen, engen Welt herauszumachen.“ 196
Im November 1934 teilte Oskar Kokoschka seinem früheren Studenten, dem Ma-
ler Friedrich Karl Gotsch, mit, dass er sich aus dieser „kleinen, engen Welt“, und
gemeint war damit Wien, aufmachen werde. Kokoschka hatte sich schon in den
Jahren zuvor nicht mehr dauerhaft in Österreich aufgehalten, sein neuerlicher Auf-
bruch war aber auch eine Reaktion auf die österreichischen politischen Verhältnisse.
Seit März 1933 regierte Bundeskanzler Engelbert Dollfuß von der Christlichsozia-
len Partei unter Ausschluss des Parlaments und führte die Republik Österreich auf
einen autoritären Weg. Die Spannungen zwischen dem sozialdemokratischen und
christlichsozial/bürgerlichen Lager erfuhren im Februar 1934 ihren Höhepunkt in
der blutigen Niederschlagung des Schutzbundaufstandes. Mit der Etablierung einer
neuen Verfassung im Mai 1934 gab sich der neue österreichische „Ständestaat“ mit
nur mehr einer zugelassenen Einheitspartei („Vaterländische Front“) seinen legisti-
schen Rahmen.197
195 Slg. Mautner Markhof, Prov. NL Klien, EGK an Walter Klien (Sohn), New York 9.8.1948 (Kopie).
196 OK an Friedrich Karl Gotsch, [Prag] 1.11.1934, zit. nach Kokoschka, Briefe III, 9. Friedrich Karl
Gotsch (1900–1984), dt. Maler, studierte bei OK in Dresden.
197 Als jüngere Untersuchung zu Politik und Rezeption des österreichischen „Ständestaats“, zu dessen
Einschätzung des faschistisch/austrofaschistisch/autoritären Charakters die Forschung nach wie
vor kein einheitliches Bild abgibt, vgl. u.a: Florian Wenninger/Lucile Dreidemy (Hg.), Das Dollfuß-
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463