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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse214
Sie verlangte gebieterisch, daß ich zu ihr zurückkehre, und hätte fast mit der Reitpeitsche
dreingeschlagen, als Bessie Loos, obwohl sie offenbar mit der seelisch verstörten Frau Mit-
gefühl empfand, standhaft meine Anwesenheit leugnete. Es wurde mir später erzählt, daß
der unschuldig verdächtigte Mann freigesprochen worden ist; aber seine Frau117 vergiftete
sich in der Villa Karma.“118
Wie schon im letzten Kapitel klar herausgearbeitet, gehört es zu den Merkmalen
autobiographischen Erinnerns, dass sich verschiedene Versatzstücke zu neuen Nar-
rativen zusammensetzen und bei Kokoschka erfolgte dies sicherlich nicht nur unbe-
wusst, sondern wurde in einer Lust zum Fabulieren auch bewusst eingesetzt. Trotz
des Wissens über Kokoschkas fantasiereiches autobiographisches Erinnern, das er ja
selbst offen als solches thematisierte, wurden Geschichten wie die obige aber in zahl-
reichen Darstellungen als reale Erlebnisse wiedergegeben und damit verfestigt.119
In seinen autobiographischen Darstellungen schrieb Kokoschka Eckstein-Diener
in ein dominantes Frauenbild der Wiener Moderne ein, eine Mischung aus Femme
fatale und Hysterikerin. Nicht wahrgenommen und damit auch nicht überliefert
wurden die realen sozial- und geschlechtergeschichtlichen Hintergründe dieser Ge-
schichte, in denen es nicht zuletzt um die per Gesetz definierte Abhängigkeit der
Ehefrau, die Schwierigkeiten der geschiedenen Mutter und die gesellschaftliche Pro-
blematik einer unehelichen Schwangerschaft ging. Der „Geschlechterkampf“ ist vor
diesem Hintergrund ein sehr eindimensionaler.
3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau
„What I really am and would want to be, I can’t be –“ 120
Der Geschlechterdiskurs des Fin de Siècle hatte sich mit dem Ersten Weltkrieg ver-
ändert. Mit der Einführung des Frauenwahlrechts markiert das Jahr 1918 zumindest
juristisch und staatspolitisch eine Zäsur in der Geschlechterordnung. Wie schwer
117 Auch dies ist falsch: Nicht Bertha Eckstein-Diener hat sich vergiftet, sondern Theodor Beer im Jahr
1919.
118 Kokoschka, Mein Leben, 94 f.
119 In diesem Fall beispielsweise bei Spielmann, Oskar Kokoschka, 94; Lentos Kunstmuseum Linz
(Hg.), Oskar Kokoschka. Ein Vagabund in Linz: Wild, verfemt, gefeiert, Linz, Weitra 2008, 56.
120 Sammlung Mautner Markhof, Prov. NL Klien. Das betreffende (undatierte) Dokument wurde
von Marietta Mautner Markhof bezeichnet als „Manuskript einer Klage über unerwiderte Liebe
(‚Mr. B‘)“.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463